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Pizza Napoletana

14. Oktober 2022
Natalie Borsy

Wenn es ein Gericht gibt, das die Bezeichnung des Global Players verdient hat, dann ist es wohl die Pizza. Man kennt sie in endlosen Variationen und die Geister scheiden sich bei der Frage, was auf sie drauf darf, welche Zutaten ein Sakrileg sind und wie eine «authentische» Pizza zu sein hat. Unumstritten ist nur der Ursprung der Pizza: Neapel.

Genau dorthin fuhr ich letzten Sommer. Neapel empfing mich aber nicht gerade mit offenen Armen. Mein Zug blieb auf der Strecke liegen und bis ich viele Stunden später als geplant die Stadt erreichte, hatte ich mich bereits mit einem Amerikaner angefreundet, der auf der Suche nach den Wurzeln seiner Familie war. Ohne Italienischkenntnisse und von dem normalen Verkehrschaos überfordert, schloss er sich mir an. Es war schon dunkel, als wir aus dem Bahnhofsgebäude schritten und erleichtert atmeten wir den Duft der Stadt ein. Und was für ein Duft. Etwas betreten blickten wir über die auf der Piazza Giuseppe Garibaldi pittoresk verteilten Müllhaufen, zwischen denen junge afrikanische Männer plauderten und Musik hörten. «Maybe it’s trash day?», mutmasste mein Begleiter.

Wir verabredeten uns, um später zusammen auf die Suche nach einer noch geöffneten Pizzeria zu gehen. Da wir schon mal in der Wiege der Pizza waren, wollten wir keine halben Sachen machen: es sollte eine der altehrwürdigen Lokalitäten werden. Zielstrebig machten wir uns auf den Weg zur L’antica Pizzeria da Michele, die schon seit 1870 in Betrieb und unter anderem dafür bekannt ist, dass sie nur zwei Sorten Pizza serviert: Margherita und Marinara – angeblich die einzigen Sorten, die wahre Neapolitaner:innen bestellen.

Gastrorausch in der Gosse

Aus dem kleinen Ladenlokal leuchteten die grünlich fluoreszierenden Lampen über einen Pulk wartender Menschen. Das Bestellsystem erschloss sich uns erst nach einigem Rumfragen und Beobachten. Warteschlangen entstanden und verschwanden spontan, man bestellte und zahlte an einer Kasse und bekam entweder eine Wartenummer, um im Lokal essen zu können, oder wurde ausgerufen, um die Pizza abzuholen. Es war bereits nach zehn Uhr abends und ein grimmig dreinblickender Pizzaiolo mit Handtuch um den Nacken wachte im Eingang und wies potenzielle Kund:innen unwirsch in die letzte Reihe, wenn sie sich auf gut Glück den Weg ins Lokal bahnen wollten. Insgeheim fragte ich mich, ob das Handtuch gelegentlich bei impertinenten Tourist:innen zum Einsatz kam.

Die Stimmung war eine Mischung aus neugieriger Vorfreude, verlegener Unsicherheit und gelegentlichen Schreckmomenten, wenn die Pizzaioli Namen und Nummern in die Menge riefen. Nach nur 30 Minuten hielten auch wir unsere warmen Kartons in den Händen – beide Margherita –, machten es uns auf einer Treppe mit Aussicht auf eine schummrige Gasse voll überquellender Müllcontainer bequem und stürzten uns auf unsere Pizzen.

Global Player aus Neapel: die Pizza. (Foto: Blake Wisz)

War es der Hunger? Die Spannung und Vorfreude, die man beim Warten aufgebaut hat? Oder war die Pizza wirklich einfach so gut, der Rand genauso köstlich und weich wie der Belag, der überhaupt nicht fettig durch den Teig tropfte, alles ein Werk der routinierten, althergebrachten Perfektion? Ich kann es ehrlich nicht sagen. In diesem Moment war es die beste Pizza meines Lebens. Aus den Augenwinkeln sah ich zwischen den Müllcontainern Kakerlaken rumhuschen, aber im Gastrorausch fand ich sie possierlich und ich erzählte dem Amerikaner von Joe’s Apartment (1996), einem Film über Kakerlaken, die ihren menschlichen Mitbewohner durch die Tücken des Lebens in einer Grossstadt begleiten und gelegentlich eine Musikeinlage zum Besten gaben. Nach dem schwierigen Start wieder mit Neapel versöhnt machten wir uns auf den Weg zurück in unsere jeweiligen Hotels, vorbei an einigen Müllwagen, die nun ihren Dienst aufnahmen (es war wirklich trash day!) und ich fühlte mich sehr verbunden mit der Stadt.

Musizierende Kakerlaken in JOES'S APARTMENT (1996).

Verklärte Italianità

War das jetzt die «authentische» Pizza, die simple Margherita aus Neapel? Angeblich hat sie ihren Namen von Margherita, der Königin des frischgebackenen, vereinten Italiens; und das deshalb, weil ihr bei einem Besuch Neapels 1877 die Pizza mit Tomaten, Mozzarella und Basilikum am besten geschmeckt haben soll. Es soll auch kein Zufall sein, dass diese Zutaten die Farbe der italienischen Flagge haben. Was könnte italienischer sein? Ich war natürlich versucht, meinen Bericht mit dieser Anekdote einzuleiten. Es ist ja oft so, dass die erfundenen Erzählungen über die Herkunft mancher Speisen viel besser sind als die Wahrheit. Aber im Fall der neapolitanischen Pizza macht es wirklich mehr Sinn, die Ursprünge in den engen, zugemüllten Gassen und bei den arbeitssuchenden Menschen als in Palästen und Königsgeschlechtern zu suchen.

Neapel hatte im 16. Jahrhundert die grösste Bevölkerungsdichte in Europa und jedes Jahr flüchtete noch mehr Landbevölkerung wegen Hungersnöten in die Stadt. Man begann schon früh mit verdichtetem Bauen, aber trotzdem waren der Platz rar, die Mieten teuer und fast die Hälfte der Bevölkerung lebte prekär oder in Armut, in überfüllten Schlafräumen ohne Küche oder auf der Strasse. Es sind gemäss Antonio Matozzi (2015) diese sozio-ökonomischen Umstände, die für den Erfolgszug der Pizza in Neapel sorgten. Sie wurde von Strassenhändlern verkauft, bestand aus billigen Zutaten und auch die Lazzaroni, das neapolitanische Lumpenproletariat, konnte sich täglich ein Stück leisten. Selbst als Pizzaiolo kämpfte man jedoch um die Existenz, musste bis spätnachts so viele Pizzen wie möglich verkaufen, um ein Ladenlokal mit Ofen finanzieren zu können. Fast zwei Jahrhunderte lang blieb die Pizza eine ausschliesslich neapolitanische Spezialität, bis Emigrant:innen sie Ende des 19. Jahrhunderts in die Welt trugen.

Das alles erfuhr ich erst nach meiner Rückkehr in die Schweiz. Als ich mit diesem Wissen auf meine Erlebnisse zurückblickte, empfand ich es plötzlich als grosses Glück, dass der Zug liegen geblieben war und ich in Begleitung eines Amerikaners, dessen Vorfahren vielleicht (?) zur Expansion der Pizza beigetragen hatten, spätabends in der verdreckten Stadt auf der Strasse Pizza Margherita essen durfte. Wie authentisch, dachte ich. Und kaum war der Gedanke fertig gedacht, schalt ich mich selbst, weil ich damit die infrastrukturellen Probleme dieser Stadt und das Elend prekär lebender Menschen glorifizierte. Über «authentisches» Essen zu schreiben, und das verdeutlichen Texte über Pizza vermutlich besser als die meisten Gerichte, führt oft am Abgrund mythologisierender Romantisierung vorbei.

Aber was bleibt von meinem Erlebnis, wenn man solchen Fettnäpfchen grossräumig aus dem Weg geht?

L’antica Pizzeria da Michele, Neapel Bewertung von pizzapazza, 3. Juli 2022

Die Pizza war richtig frisch und lecker, voll authentische location! Das Warten lohnt sich. Einen Stern Abzug, weil es mega viele Kakerlaken in der Strasse gab!! #blatta

Zum Weiterlesen: Mattozzi, Antonio: Inventing the Pizzeria. A History of Pizza Making in Naples. London/New York 2015 (2009).

Natalie Borsy

Natalie Borsy hat Populäre Kulturen, Englische Literatur und Filmwissenschaft studiert und ist wissenschaftliche Assistentin am ISEK – Populäre Kulturen der Universität Zürich. In ihrer Dissertation untersucht sie fiktionale Kochbücher, wie *Harry Potter*-, *Downton Abbey*- und *Star Wars*-Kochbücher, die Fans von diesen populären Romanen, Filmen, Serien und Computerspielen adressieren und oft von diesen selbst geschrieben werden. Weil Natalie selbst ein Acafan ist und leidenschaftlich gerne kocht und isst, probiert sie auch viele Rezepte aus diesen (und anderen) Kochbüchern aus.  
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