Zerstreuung: Editorial
Zerstreuung ist nicht gestern, nicht morgen, sondern jetzt. Der Moment scheint endlos ausgedehnt – er schreibt sich unablässig fort, Augenblick um Augenblick, und lässt uns nicht los. Wir geben uns ihm hin, sind wie gebannt und gefesselt. Zugleich beschreibt Zerstreuung ein sinnliches Gleiten ohne Anstrengung oder Zwang. Sie ist Konzentration, die sich in ihr Gegenteil verflüchtigt – der freie Lauf der Dinge ist ihr oberstes Prinzip. Zerstreuung ist ein Zustand in der Grauzone zwischen Mangelerfahrung und Katharsis, der weder als uninspiriert noch als überfordernd wahrgenommen wird. Sie funktioniert nicht nach einem ehrgeizigen Plan, sondern gründet auf genussvoller Orientierungslosigkeit. Die Ablenkung vom Ziel ist das eigentliche Ziel. Doch verlieren wir ohne klare Ausrichtung auch uns selbst? Drohen wir nicht mehr aufzutauchen, wenn wir uns in Zerstreuung versenken? Sind wir zerstreut nur auf der Flucht vor der Welt, anstatt sie anders zu denken? Sind wir, wenn wir uns zerstreuen, für so vieles zugleich aufmerksam, dass wir nichts mehr merken können? Oder können wir etwas aus solchen Momenten des vorübergehenden Selbstverlusts lernen? Müssen wir erst die Selbstdistanz verlieren, um uns selbst und andere in einer neuen Perspektive sehen können? Was lässt sich gewinnen, wenn man sich dem Diktat nach Rationalität und Tiefe widersetzt? Im Schwerpunkt Zerstreuung laden wir Autor:innen ein, diese assoziativen Gedanken aufzunehmen, sie weiterzudenken, ihnen zu widersprechen und neue Überlegungen hinzuzufügen. Die Beiträge skizzieren Kulturen der Zerstreuung, die sich als Fluchten aus den gekerbten Räumen der Gegenwartsgesellschaft verstehen. Das Schlagwort versammelt kulturwissenschaftliche Einblicke in Praktiken, Erzählungen und Dingwelten, die sich dadurch kennzeichnen, dass sie sich Forderungen nach Produktivität und Selbstdisziplin weitgehend widersetzten – inwiefern dabei auch neue Räume eröffnet werden, bleibt schliesslich im Einzelfall zu klären.