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«Natur. Und wir?» im Stapferhaus

Idee und Ästhetik des Anthropozäns haben Natur endgültig aus ihrer Nische herausgeholt und zum brennend aktuellen Gesellschaftsthema gemacht. Kein Wunder also, dass das Stapferhaus in Lenzburg «Natur. Und wir?» in sein Programm der «Auseinandersetzung mit den grossen Fragen unserer Zeit» aufgenommen hat. Eine Ausstellung ganz nach Art des Hauses, gut gedacht und vor allem gut gemacht, bleibt sie in letzter Konsequenz zwar ein wenig im eigenen Denken gefangen, stösst aber allemal zu Reflexion und Auseinandersetzung an.

«Neulich im Museum» ist eine neue Kolumne von «das bulletin. Für Alltag und Populäres». Sie will den kulturwissenschaftlichen Blick auf die Institution Museum und das populäre Medium Ausstellung schärfen und dem nach wie vor vernachlässigten Genre der Ausstellungskritik einen Platz geben. Dazu erscheinen in loser Folge knappe Berichte von Besuchen in kleinen und grossen Museen des In- und Auslands, sichtbaren und weniger sichtbaren, solchen mit deutlicherem Bezug zur Kulturwissenschaft des Alltags und auch solchen, bei denen sich dieser nicht auf den ersten Blick erkennen lässt.

Natur boomt im Kunst- und Ausstellungwesen – von Biennale und Documenta über die grossen Häuser bis zur lokalen Ebene. Höchste Zeit, sollte man sagen, anstatt dies als modisch und opportunistisch abzutun. Aber wie stellt man Natur aus, wie Mensch-Umweltbeziehungen in Bewegung, wie die Hintergründe der grossen globalen Krisen um Artensterben und Klimawandel? Diese Fragen werden gegenwärtig längst nicht nur in den qua Gegenstand besonders geforderten naturhistorischen Museen gestellt, sondern auch dort, wo a priori nicht Natur und Umwelt, sondern Kultur und Gesellschaft im Zentrum stehen. Es ist kein leichtes Unterfangen, weil auch im kritischen Rückgriff auf bestehende Sammlungen und unter Zuzug künstlerischer Positionen vieles unausgeleuchtet bleiben muss, weil Zugänglichkeit, Teilhabe und Möglichkeiten zur Interaktion eingeschränkt sind.

«Museen ohne Sammlungen» wie das seit 2018 im zugleich niederschwelligen und funktionalen Neubau am Lenzburger Bahnhof residierende Stapferhaus tun sich da vielleicht leichter, weil sie von vornherein auf Erzählung und Szenografie, sowie auf, wie es im Motto des Hauses programmatisch heisst, Auseinandersetzung «in sinnlich erfahrbaren Ausstellungswelten» angewiesen sind.

Barfuss durch das Labyrinth der Fragen

Dass dies auch der Zugang für «Natur. Und wir?» ist, wird einem bereits bei Verlassen des Bahnhofes der Aargauer Kleinstadt und Überquerung des mit seinen Gleisen städtebaulich immer wieder irritierenden Vorplatzes bewusst. Der dunkle kubische Holzbau des erfolgreichsten «Nicht-Museums» der Schweiz ist umgeben von Pflanzen in Containern aus Stahl und in wabernde Fahnen gehüllt. Auf den ersten Blick weiss man nicht recht, ob es sich um Mikro- oder Makrowelten in Grün handelt. Eine ästhetisch ansprechende Einstimmung, die über Modi und Skalierungen der Präsentation rätseln lässt. Am Ende der Ausstellung erfahren wir, dass die Grafik der Fahnen auf Satellitenaufnahmen der Erde basiert.

«Was ist Natur?» – Die Schuhe bleiben zugunsten der sinnlichen Erfahrung auf dem Frageparcours durch die Ausstellung zurück. (Foto: Bernhard Tschofen)

Nach Betreten des Gebäudes respektive Passieren der ersten dunklen Filzschleuse aber heisst es «Schuhe ausziehen!» und sich auf einen Parcours einzulassen, der es in sich hat. Nun geht es über Sand – Sinne!, Erdzeiten! – mitten hinein in ein für das Stapferhaus ungewöhnlich historisches Präludium. In gestalterischer Hinsicht ist dies vielleicht bereits einer der Höhepunkte der Szenografie, die in bewährter Zusammenarbeit mit dem mittlerweile in Museumskreisen in ganz Europa gefragten Büro Kossmanndejong (Amsterdam) erarbeitet wurde. Angeordnet nach elementaren Praktiken im Umgang mit Natur – Fürchten, Erobern, Erforschen, Ordnen, Verkaufen und Schützen – erzählen hier Objekte aus naturhistorischen Museen und Sammlungen der Schweiz über Entwicklung, Wandel und Widersprüche des modernen Naturverständnisses. Ganz abgesehen von den faszinierenden Präparaten aus der Tier- und Pflanzenwelt, sind es vor allem die sinnfällig arrangierten historischen Sammlungsschränke und Vitrinen, die ohne grosse Erläuterungen viel von den Epistemologien und nicht weniger von den Ideologien von Natur preisgeben. Soviel sinnlich ansprechende Reflexion würde man sich manchmal in den leihgebenden Institutionen selbst wünschen.

Naturkunde in Schieflage: Inszenierung zur Wissenspraxis des «Eroberns» am Beginn der Ausstellung. (Foto: Bernhard Tschofen)

Die grosse Ausstellungshalle im Obergeschoss erreicht man bereits mit einem «Kompass» bewährt, einem elektronischen Tool, mit dem auf die zahlreichen Fragen geantwortet werden kann, die einen ab jetzt erwarten. «Sollen wir den Umgang mit Natur neu regeln?», heisst es etwa gleich zu Beginn. Und spätestens jetzt weiss man auch, dass der weitere Rundgang nicht einfach Wissen für den wohlfeilen Konsum aufbereiten wird, sondern fragen, involvieren und – wie aus früheren Ausstellungen des Stapferhauses bekannt – Daten generieren wird, auf die man früher oder später wieder stossen wird.

Die grosse Halle gleicht einem Klangwald, durch den man mehr oder weniger frei mäandriert und in dem es viel zu entdecken gibt. Man kann aber auch zunächst einmal schlicht eintauchen in eine hervorragend gemachte, vielstimmige Medienstation, in der in einer Endlosschleife 17 (?) unsichtbar bleibende Akteur:innen über ihren Naturbezug sprechen. Der Trickfilmanimateur, der über die Tierwelt als Spiegel menschlicher Charaktere räsoniert, gehört hier ebenso dazu wie die Fischerin, Köchin oder Schamanin mit ihren je eigenen Perspektiven und Verbalisierungen. Auf den CEO einer grossen Gemüsegärtnerei, der den Hydrosalat aus geschlossenem Anbau als ökologisch optimierte Lösung darstellt, folgen der städtische Wildhüter, der nachdenkliche «Beschneier» eines Bündner Skigebiets oder die mit den Botschaften der Genesis hadernde Pfarrerin. Gut vermittelt sich hier, wie relativ Reflexion, Ratio und Emotion in Bezug auf Natur zu verstehen sind. Schade aber, dass weniger privilegierte Positionen sowohl hierzulande als auch ausserhalb des Landes keinen Auftritt haben.

«Stell Dir vor …, wir gehören dem Land»: Von Tyson Yunkaportas «Sand Talk» inspiriertes Kabinett mit retournierten Steinfunden der Besucher:innen. (Foto: Bernhard Tschofen)

«Stell Dir vor…»: Einladungen zum Perspektivenwechsel

Stimmungsvolle «Natur-Projektionen» des Videokünstlers Georg Lendorff, klanglich untermalt von smoothen Tönen begleiten durch zahlreiche «Kabinette», die mit verschiedenen Perspektiven und Vorstellungen konfrontieren: «Stell Dir vor…». Es geht nun um Landbesitz und Tiere als Begleiter, um das Kommunizieren mit Pflanzen und das Lernen von Pilzen. Man schlüpft in die Rolle eines Stadtfuchses, bekommt einen Blick auf die Spezies auf und in unseren Körpern und man lauscht in einem nach Art der «Gärten des Grauens» gestalteten Kabinett einem vom Berliner Philosophen und Kurator Daniel Tyradellis verfassten Dialog zwischen Roboterhund und Mähroboter – inhaltlich pointiert und auch sprachlich voller gewitzter Anspielungen. Auch internationale Theoretiker:innen kommen zu Wort, stehen Pate für einzelne der Natur-Imaginationen: «Natürlich» Donna Haraway, wenn es um Mensch und Tier als Gefährten geht, aber auch der australische Kulturwissenschaftler Tyson Yunkaporta, dessen vielbeachtetes Buch «Sand Talk» das Denken der Indigenen als Weg aus den multiplen der Krisen der Gegenwart postuliert.

Als Fuchs unterwegs in der Stadt: Wer an alle Informationen herankommen will, muss sich auch einmal auf ungewohnte Perspektiven und Positionen einlassen. (Foto: Bernhard Tschofen)

Diese relationale und in vernetzten Strukturen denkende Grundhaltung beherrscht auch die zentrale Informationsinsel, wo in sehr anschaulichen Visualisierungen wichtige «Facts and Figures» zum «kritischen Zustand der Erde» zusammengetragen sind. Es geht um Ressourcen und Biodiversität, vor allem aber um die Zusammenhänge der mit der «Great Acceleration» gewachsenen Kosten unserer Lebensweise. Daten aus der Schweiz treffen auf Informationen zu planetaren Verflechtungen, und auch hier verleihen Medienstationen mit «Talking Heads» unterschiedlichen Positionen – etwa der Klimaaktivistin oder dem indigenen Widerstand – exemplarisch Gesicht und Stimme.

Zukunft inklusiv verhandeln und dem Elitenverdacht vorbeugen

Das Bild des Forums als Ort der Verhandlung von Zukunft setzt sich schliesslich auch in der finalen Videoinstallation fort, in der in einer Art virtuellem Panel zwischen vier etwas stereotypen Positionen – der Technikfreudige, die Informierte, der Ganzheitliche und die Unbekümmerte – diskutiert wird, «was zu tun ist». Die Besucher:innen nehmen mit ihren Antworten auf die im Gespräch zahlreich gestellten Fragen quasi live Einfluss auf die Debatte. Man kennt ähnliche Herangehensweisen aus den vergangenen Ausstellungen des Stapferhauses, und das Ganze mag zwar recht plakativ anmuten, wie es dem Medium nun einmal eigen ist, ist aber dafür umso involvierender.

«Welche Spur hinterlässt Du?», lautet die Frage, die einen auf einem gewundenen Pfad (das wievielte Fussbodenmaterial nach Sand, Holz, Stein und Mycel wird das nun sein, das man hier begeht?) aus der Ausstellung entlässt. Seine Antworten bekommt man schliesslich auf einem ausgedruckten «Natur-Kompass» präsentiert, mit dem man sich in einem grafisch wie die gesamte Ausstellung liebevoll gestalteten Faltblatt im Sinne von «Natur. Und Du?» verorten kann.

Von den Pilzen lernen – konsequent bis ins Bistro: Lampenschirm aus Pilzmycel, gezüchtet im Studio für Szenografie Kossmanndejong. (Foto: Bernhard Tschofen)

Das 2020 mit dem Europäischen Museumspreis ausgezeichnete**** Stapferhaus reklamiert für sich, dass Form und Gestaltung seiner Ausstellungen stets den Recherchen folgen. Aber naturgemäss gilt auch das umgekehrte Prinzip, denn die bewährte «Methode Stapferhaus», sein Verständnis von Museum und Ausstellung, bedingt auch spezifische Recherchen. Vielleicht liegt es daran, dass die grossen Überraschungseffekte mit der Zeit ausbleiben und sich bestimmte Muster wiederholen, ob nun die grossen Fragen um «Natur» oder – wie in den vergangenen Jahren – um «Geld», «Heimat», «Fake» oder «Geschlecht» verhandelt werden. Den museografisch erfrischendsten Eindruck hinterlässt nämlich diesmal paradoxerweise gerade das historische Intro. Für kommende Ausstellungen wird man sich also der Frage zu stellen haben, wo der Anspruch auf Interaktion und Teilhabe wiederum droht exkludierend zu wirken. Am Ende verlässt man das Ausstellungshaus nämlich doch ein wenig mit dem Eindruck, dass «Und wir?» vor allem auf ein spezifisches Milieu zielt, dem die Sorge um die Natur ohnehin längst zur identitätsstiftenden Selbstsorge geworden ist.

«Natur. Und wir?» bis 29. Oktober 2023 im Stapferhaus, Bahnhofstrasse 49, 5600 Lenzburg. Die Begleitpublikation zur Ausstellung erscheint Anfang 2023.

Bernhard Tschofen

Bernhard Tschofen ist Professor für Populäre Kulturen an der Universität Zürich. Er war nach dem Studium der Empirischen Kulturwissenschaft und Kunstgeschichte in Innsbruck und Tübingen unter anderem im Museumswesen tätig, dann an der Universität Wien. Von 2004 bis 2013 hatte er eine Professur an der Universität Tübingen inne. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Berührungsflächen von Alltags- und Wissenskulturen sowie raumkulturelle Fragen in Geschichte und Gegenwart. In der Kolumne «Neulich im Museum» berichtet Bernhard Tschofen für das bulletin von Besuchen in kleinen und grossen Museen des In- und Auslands und reflektiert das populäre Medium Ausstellung.
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