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In – Mit – Durch: Drei Modalitäten digitalen Reisens

Google Maps ermöglicht neuartige Formen des digitalen Reisens. Doch das, was als «digital» definiert wird, ist keineswegs einheitlich. Denn jede Reisemodalität eröffnet bestimmte Wahrnehmungsformen, bei denen sich das Verhältnis zwischen virtuellem und physischen Raum anders bestimmt. Im Folgenden wird anhand einer autoethnographischen Tour gezeigt, wie solche digitalen Reisemöglichkeiten kulturwissenschaftlich beschrieben werden können.

Der Beitrag erschien erstmals im Bulletin 03/2015 unter dem Titel «In –Mit –Durch. Drei Modalitäten digitalen Reisens am Beispiel von Google Maps». Die Autorin hat das Thema für uns erneut aufgegriffen und dessen Aktualität herausgearbeitet.

In diesem Beitrag von 2015 wurde aufgezeigt, wie die Reisemodalitäten in, mit, durch Google Street View je spezifische digitale Raumanordnungen herstellen. Bewegungsstile, Digitales und Räume sind relational verschränkt. Es bedarf eines differenzierten Blicks auf diese Arrangements: Beim Reisen in steht das Digitale für «das Virtuelle», der digitale Raum erscheint als (Container) im Internet oder im Computer. Beim Reisen mit entsteht eine Dichotomie zwischen einer analogen und einer digitalen Raumsphäre. Reisen durch hingegen amalgamiert alle Unterschiede. Die Wahrnehmung wird für die digitale Durchwobenheit alltäglicher Raumerfahrung geschult.

In späteren Beiträgen wurde zusätzlich Reisen für beschrieben: Die Kamerafahrten von Google sind augmentierende Praktiken im Hinblick auf die spätere Visualisierung im Netz. Ebenso liessen sich vermutlich auch noch weitere Präpositionen verwenden, um andere Bewegungsstile und Arrangements zu fassen (vgl. «On the (Digital) Road. Unterwegs für, in, mit und durch Google Street View» oder «Augmented Space Multiple»). Alle diese unterschiedlichen Modalitäten des Reisens in, mit, durch, für etc*.* Google Street View bilden ein unzählbares Wegraumgeflecht eines praxeologisch konzeptualisierten Augmented Space Multiple.


Rheinsprung 9/11 in Street View, Screenshot von Sibylle Künzler, 21.06.22
Rheinsprung 9/11 in Google Street View 21.06.22, Screenshot: Sibylle Künzler

Digitales und virtuelles Reisen ist spätestens seit der Einführung der Geodaten-Plattformen von Google – Google Maps, Google Earth, Street View und weiteren ähnlichen Funktionen – zu einer alltäglichen Praxis geworden. Internetartikel wie «Digital unterwegs»[i], «In 80 Klicks um die Welt»[ii] oder «Reisen mit Google Maps»[iii] bestätigen, dass sich die kulturelle Erfahrung des Reisens und im Zuge dessen die Raumwahrnehmung gewandelt haben. Allerdings handelt es sich bei der «digitalen» Reisepraxis um kein einheitliches Phänomen. Im Rahmen ihrer Dissertation zur Erforschung der digitalen Räumlichkeiten von Google Maps begibt sich die Autorin dieses Beitrags seit einigen Jahren immer wieder mittels der erweiterten Methode des Wahrnehmungsspazierganges auf solche «digitale» Touren. Dabei zeigt sich, dass viele verschiedene Varianten des digitalen Reisens möglich sind. Drei Modalitäten sollen im Folgenden thematisiert werden.

Klick – die Forscherin startet den Computer und öffnet über den Safari Browser die Online-Plattform Google Maps. Zürich und Umgebung erscheinen als Kartenausschnitt im Fenster. Bei einer ersten Tour ergreift sie am Seitenrand des Bildes mit der Computermaus die kleine virtuelle Figur Pegman, springt virtuell «in» die Karte hinein und «landet» auf irgendeiner von den Google*-*Autos abgefahrenen und abgelichteten Strasse. Diesmal ist es die Rapperswilerstrasse bei Zürich Wetzikon.

Im Ausschnitt des 360°-Panoramas der Street View-Ansicht ist eine unspektakuläre Wiese am Strassenbord zu sehen, weiter hinten im Bild ein paar Bäume, ein Wohnblock in der Ferne. Die Forscherin betätigt den Kompass und die virtuellen Pfeile auf der Fahrbahn verlocken dazu, sich mittels der Pfeiltaste auf der visualisierten Strasse fortzubewegen. Die Reise in dieser virtuellen Landschaft ruckelt von Bild zu Bild. Dennoch richtet sich die Aufmerksamkeit der Forscherin – vor allem ihr Blick – fast gänzlich auf diesen durch Stitching, das heisst durch digitale Collagetechnik zusammengesetzten Raum im Bild, in den sie «eingetaucht» ist. Nach ein paar Klicks wechselt sie aber wieder in den Kartenmodus, nimmt sich wieder vor dem Computer sitzend wahr und startet eine zweite Tour.

Rapperswilerstrasse in Google Street View 23.10.2015, Screenshot: Sibylle Künzler
Rapperswilerstrasse in Google Street View 23.10.2015, Screenshot: Sibylle Künzler

Diesmal will sie die Umgebung der ausgeschriebenen freien Wohnung, die sie am Nachmittag in Zürich besichtigen will, erkunden und nachschauen, wie sie zu Fuss vom Bahnhof Wiedikon an die Erlachstrasse finden kann. Sie gibt die Adresse im Eingabefeld im oberen Bildrand ein, berechnet die Route, zieht erneut den kleinen gelben Pegman ins Bild und prägt sich in der Street View-Ansicht den Weg, den sie später beschreiten will, vorab visuell ein. Dann schaltet sie den Computer aus und geht am Nachmittag zu Fuss durch die Strassen. An einer Ecke, an der sie unsicher ist, wie sie abbiegen muss, nimmt sie ihr Smartphone hervor und öffnet das Google Maps-App, das ihr den Weg weist. Bald schon steht sie vor dem Haus, dessen Fassade nicht mehr wie auf der bereits etwas älteren Street View-Fotografie braun-grau, sondern rot ist, aber sie erkennt es trotzdem wieder. Mit den Werkzeugen des Online-Kartendienstes von Google hat sie schnell den richtigen Weg gefunden.

Rheinsprung 9/11 in Street View, Screenshot von Sibylle Künzler, 21.06.22
Rheinsprung 9/11 in Google Street View 21.06.22, Screenshot: Sibylle Künzler

Nach der Wohnungsbesichtigung schlendert sie wieder zurück zum Bahnhof Wiedikon. Auf dieser dritten Tour biegt sie mal links ab, mal rechts, planlos und scheinbar ohne die Hilfe von Google Maps. Aber sie stellt sich die Pfeile auf der Fahrbahn vor, «zoomt» mit ihrem Blick auf die nächste Hausfassade und sie weiss, dass jeder ihrer Schritte als Punkt im Global Positioning System (GPS) von Google errechnet werden kann. Mit jedem Schritt «klickt» sie sich durch Google Maps und macht so eine «digitale» Reise durch die Räumlichkeit der Medialität selbst.

Die drei hier erwähnten Modalitäten digitalen Reisens können mit den Präpositionen in, mit und durch beschrieben und theoretisch gefasst werden.

Reisen in…

Die erste Reisevariante, das «Reisen in…», fokussiert das virtuelle Reisen in Google Maps, insbesondere in der Panorama-Funktion Street View, bei der eine Immersion, also ein «Eintauchen» in den digitalen Bildraum stattfindet. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf den Raum «im» Medium.

Ohne Reisezeit und -kosten, ohne schweres Gepäck «fliegen» die User:innen mittels Pegman an den Ort ihrer Wahl. Es kann die Welt erkundet, es können die «World Wonders»[iv] abgerufen oder andere beliebte Reise -destinationen aufgesucht oder aber auch unspektakuläre Touren wie zum Beispiel jene zur Rapperswilerstrasse durchgeführt werden. Street View ermöglicht es, auf allen fotografisch erfassten Strassen zu reisen und sich so den eigenen Roadmovie zusammenzustellen.[v] Die auftauchenden Pfeile, auf welche mit der Maustaste geklickt werden kann, verleiten zum stetigen Unterwegssein. Zu sehen ist alles, was in jenem Augenblick, in dem das Google-Auto durch die betreffende Strasse gefahren ist, abgelichtet wurde, egal ob es sich um einen Glascontainer, einen Mann im Taucheranzug, einen Kiosk mit einer Menschentraube davor oder um ein düsteres Wolkengebilde über einer sanften Hügellandschaft handelt.

Doch die scheinbar unbegrenzten virtuellen Reisemöglichkeiten in Street View sind durch die codierten Bildpfade begrenzt und die virtuelle Fahrt kann ins Stocken und Schleudern geraten. Die Bewegung mittels der angebotenen Tools ist oft nicht so präzise steuerbar. Bei einem falschen Klick führt die Reise beispielsweise plötzlich von der Strassenmitte in eine Hauswand hinein und vielleicht sogar durch diese hindurch zur nächsten Street View-Ansicht.

Bei dieser digitalen Praxis geht es also um ein Reisen im virtuellen Raum. Dabei wird allerdings häufig ausgeblendet, dass die User:innen – obschon sie in diesem Moment vor allem ihre virtuelle Präsenz wahrnehmen – vor dem Computer sitzen und damit von einer als analog definierbaren räumlichen Situation umgeben sind. Eigentlich ist das Virtuelle nie ganz körperlos und das Digitale stets materiell eingebettet.

Reisen in… fokussiert auf den virtuellen Raum. Grafik: Sibylle Künzler

Reisen mit…

Richtet sich die Forschungsperspektive wie bei der oben genannten zweiten Tour stärker auf die Verknüpfung zwischen einem analogen und digitalen Bereich, wird ein anderer Modus des digitalen Reisens erkennbar, welcher hier als «Reisen mit…» bezeichnet wird. Beim «Reisen mit…» handelt es sich um ein semi-virtuelles Reisen, welches eine zweigeteilte räumliche Anordnung eines digitalen und eines analogen Raumes erzeugt.

Auf der Suche nach einer bestimmten Adresse bei der Routenplanung oder bei der Orientierung mittels eines GPS-tauglichen Gerätes findet eine neuartige Kombination zwischen Analogem und Digitalem statt. Die Computertechnologie ist ubiquitär geworden und kann mobil – nicht nur am fixen Computergerät, sondern auch auf der Strasse – genutzt werden. Bei diesem digitalen Reisemodus geht es also um das Hin- und Herwechseln zwischen Analogem und Digitalem. Die beiden Bereiche beginnen sich sehr engmaschig zu durchdringen, bleiben aber analytisch voneinander getrennt. Wird versucht, eine solche Reise zu beschreiben, so ist es beinahe zwingend, zwischen Momenten des Digitalen, Virtuellen, Bildhaften und Momenten des Analogen, Faktischen, Physischen zu unterscheiden. Google Maps ist zwar eine virtuelle Plattform, zeigt aber keine absolut fiktive Welt und soll die physisch-körperliche Navigation mittels der digitalen Karten und Panoramen erleichtern. Gereist wird nicht in den virtuellen Street View-Landschaften, sondern auf den physischen Strassen mit den Werkzeugen der virtuellen Plattform Google Maps.

Reisen mit… erzeugt einen virtuellen und einen physischen Raum. Grafik: Sibylle Künzler

Reisen durch…

Die Grenzen zwischen Digitalem und Analogem können sich aber auch vollständig auflösen, wodurch die Räumlichkeit der Medialität als heterogenes Ensemble verschiedener Medien beziehungsweise verschiedener Akteur:innen – Menschen, Computer, Satelliten, virtuelle Pfeile, Google-Autos und so weiter – wahrnehmbar wird. Diesem Modus des Digitalen entspricht nun die dritte, sehr abstrakte Reisepraxis, die durch Google Maps als multimediales Arrangement führt und dadurch atmosphärisch wahrnehmbar wird.

Bei dieser «Reise durch…» sind nicht mehr nur die Online-Plattformen Gegenstand der Untersuchung, sondern das gesamte mediale Netzwerk, in das sie eingebunden sind. Es ist eine abstrakte, eher gedankliche, aber dennoch physisch verankerte Reise, die «quer durch»[vi] die Bildschirme führt. Sie beginnt beispielsweise im klimatisierten Büro vor dem Bildschirm, führt über die Satelliten und Google-Autos, über die Lektüre raumtheoretischer Texte oder über die Zoombewegung von Daumen und Zeigefinger auf dem Smartphone und endet an ganz unterschiedlichen Orten, im Street View-Panorama, beim virtuellen Pfeil auf der asphaltierten Strasse oder wieder vor dem Computer im klimatisierten Büro. Ein «Eintauchen» ins Bild ist nicht mehr möglich, ohne nicht an den gesamten Produktionsprozess (Satelliten, Computer, Google-Autos, Fahrer, Pfeile, Drähte, Rechner…) zu denken, welcher solche Bilder überhaupt erst hervorbringt.[vii] Ebenso wird nicht bloss mit den angebotenen digitalen Werkzeugen gearbeitet, um sich geschickter durch den physischen Raum zu bewegen. Vielmehr ist Google Maps als atmosphärische Spur in die Raumwahrnehmung eingedrungen, wenn beispielsweise, wie oben beschrieben, nach dem Gebrauch von Street View vor dem inneren Auge die Gehwege und Fahrbahnen immer durch Pfeile ergänzt werden. Die gesamte Umgebung scheint digital durchwoben zu sein.

Manche Definitionen wie beispielsweise Lev Manovichs Arbeit The poetics of augmented space aus dem Jahr 2006 definieren einen solchen «erweiterten» Raum als virtuelle «Überlagerung» oder digitale «Anreicherung» der physischen Umwelt.[viii] Obschon damit die zunehmende gegenseitige Durchdringung von Analogem und Digitalem thematisiert werden soll, bleiben die Gegensatzpaare – physisch versus virtuell, analog versus digital, online versus offline – sprachlich weiterhin aufrechterhalten. Aus raumtheoretischer Sicht besteht bei der kulturwissenschaftlichen Erforschung dieses «erweiterten» Raumes die Gefahr, dass der physische Raum erneut als «der» Raum per se verstanden wird und als Schachtel oder Behälter gedacht wird für die darin zirkulierenden digitalen Daten.[ix] Der «digitale» Raum, welcher in der «Reise durch…» entsteht, kann im Gegensatz dazu aber auch als atmosphärische, materiell verankerte und nicht-dreidimensionale Anordnung beschrieben werden, bei der nicht mehr genau geklärt werden kann, was digital und was analog ist. In der Wahrnehmung wird alles mit allem verkettet und so die Räumlichkeit der Medialität, verstanden als das durch diese Verkettung entstehende Netzwerk, geschaffen.

Reisen durch… schafft einen «erweiterten» Raum. Grafik: Sibylle Künzler

Fazit

Anhand der hier beschriebenen drei Modalitäten digitalen Reisens konnte unter anderem gezeigt werden, dass das, was als «digital» definiert wird, nicht einheitlich ist. Je nach Fragestellung und Perspektive ist eine analytische Trennung zwischen einem als analog und einem als digital definierten Raum relevant oder eben gerade nicht: Beim «Reisen in…» wird eine Trennung vorausgesetzt und nur im «digitalen» Raum geforscht. Auch beim «Reisen mit…» ist dieses zweiteilige Kategoriensystem forschungsrelevant, da hier der Fokus auf das wechselseitige Verhältnis zwischen analogen, physischen Umgebungen und einem digitalen, virtuellen Raum gerichtet wird. Gänzlich aufzuheben scheinen sich diese Gegensätze allerdings beim «Reisen durch…», bei dem eine «erweiterte», atmosphärische und zugleich materielle Räumlichkeit entsteht. Es handelt sich bei dieser Reisevariante um einen neuen Modus der Raumwahrnehmung als Teil des gegenwärtigen digitalen Alltags.

Sibylle Künzler

Sibylle Künzler ist Oberassistentin am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel. Zuvor war sie als Assistentin am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Zürich und dort auch als Spezialistin für Lehrentwicklung in der Hochschuldidaktik tätig. Sie studierte in Zürich und Wien und schloss mit einem Lizentiat zu Partyfotografien auf Online-Eventportalen ab. Ihre Dissertation trägt den Titel «Bewegte Topologien. Kulturwissenschaftliche Erkundungen augmentierter Räume» (2022).
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