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Hören über die Ohren hinaus

Was bedeutet es zu hören? Was bedeutet es hin- oder zuzuhören? Und geht das Hören vielleicht sogar noch weiter, über die Ohren hinaus? Der zweite Teil der Doppelkolumne über den Hörsinn führt das Hören aus seinen Gewohnheiten ins Offene und Weite. Denn auch ohne Ohren können wir hören, was aus diesem Sinn mitunter einen Sinn der Teilhabe macht.

Es kann gut sein, dass man mitten in den Häuserschluchten einer Stadt Mühe hat, einzelne Geräusche zu identifizieren, besonders solche, die von weit weg an unsere Ohren dringen. Auf einer Anhöhe kann es einfacher sein, Geräusche, die weit weg sind, überhaupt zu hören. Seit der Industrialisierung und Urbanisierung hat sich unser Hören insofern verändert, als Geräusche aus der Nähe wichtiger und dominierender geworden sind. Wir haben es deshalb höchstwahrscheinlich etwas verlernt, in die Weite zu lauschen, und achten – auch das wahrscheinlich anders als unsere Vorfahren – viel weniger auf Geräusche, die aus weiterer Distanz zu uns dringen. Dafür kann es sein, dass wir nahe Geräusche schneller einordnen, so dass wir etwa sicher über eine befahrene Strasse gehen können.

Dieses Beispiel macht nochmals bewusst, dass das Wie des Hörens (und damit auch das Was) historischen Veränderungen und Wahrnehmungstraditionen unterworfen ist. Im Verlauf unseres Lebens können sich unsere Wahrnehmungsfilter durchaus verändern. Da ich mich in den letzten Jahren intensiv mit der Klangwelt der Vögel beschäftigt habe, habe ich meine Ohren so trainiert, dass ich auch mehr Vögel höre.

Anfang Januar sassen wir abends am Esstisch und ich habe trotz geschlossenen Fenstern plötzlich innegehalten. Ich glaubte einen Waldkauz zu hören. Und tatsächlich: Auf dem Hausdach nebenan sass einer. Er wartete auf die Antwort eines Gegenübers, das nur einige Dächer weit weg zu sein schien. Nach dessen Reaktion rief er lautstark ein Waldkauz-typisches hUUUUuh...hu, hu'hu'huhUUUUuh zurück. So ging das hin und her. Wir rätselten, ob sich die Waldkäuze in einer Art überschwänglichen Frühbalz auf einmal in der Stadt träfen anstatt im Wald oder in Waldesnähe. Nur während der Corona-Lockdownzeit kann ich mich an nahe Rufe und Waldkäuze, die ins bewohnte Quartier ausfliegen, erinnern. Ungewohnt ebenfalls der Zeitpunkt, beginnt doch die Balzzeit sonst im März oder April.

Weggehört

Es bereichert meinen Alltag, mich von meiner klingenden Umwelt wie diesem Waldkauz-Paar – falls ihr Date denn erfolgreich war – überraschen lassen zu können. Dennoch stelle ich über einen ganzen Tag gesehen auch fest, dass ich nicht immer aufmerksam zugehört habe, dass ich etwa das Bremsen eines Trams in der Kakophonie der rush hour nicht wirklich wahrgenommen habe. Das Herausfiltern und «Nicht-Hören» scheint bei grosser Menge an akustischen Reizen gewissermassen als Schutzfunktion zu fungieren. Wir haben an den Ohren nicht, wie bei den Augen, Lider, mit denen wir uns abschirmen können. So üben wir uns unbewusst darin, uns auf gewisse Geräusche zu fokussieren oder gar ganz wegzuhören. Ein aufmerksames Hinhören zu üben, zu praktizieren und zu vermitteln ist deshalb nicht ohne Grund ein zentraler Aspekt der Sound Studies oder Klangforschung.

Der als Pionier dieses Feldes geltende Komponist und Klangforscher Raymond Murray Schafer hat im Rahmen seiner Unterrichtstätigkeit ein Ear-Cleaning entwickelt (1969). Dabei hat er Studierende mitunter auch mit der Aufgabe betraut, einen interessanten Klang in die nächste Unterrichtsstunde zu bringen. Ein Student brachte einen Knackfrosch aus Metall mit, dessen Klang er zwar, so der Student, sein ganzes Leben lang immer wieder gehört (hearing) habe, es sei aber das erste Mal, dass er ihm wirklich zugehört (listening) habe.

Der Körper als Hörorgan

Den Teilnehmenden Klänge bewusst werden zu lassen, die sie bislang nicht aufmerksam gehört haben, ist auch der Ansatz von Deep Listening. Die Musikerin Pauline Oliveros hat unter diesem Begriff über Jahrzehnte eine Praxis entwickelt, mit der man die eigene auditive Wahrnehmung schärfen und erweitern kann. Dazu hat sie selbst oder mit Teilnehmenden ihrer Deep Listening-Retreats Anleitungen zum Hören und klanglichen Improvisieren gesammelt, verfasst und veröffentlicht. Besonders oft begegne ich einer ihrer sogenannten Sonic Meditations (1971):

Take a walk at night. Walk so silently that the bottoms of your feet become ears.

Es geht also, wie in dieser Anleitung anklingt, nicht nur um ein Hören mit den Ohren, sondern Oliveros bezieht den ganzen Körper als Hörorgan mit ein. Als Komponistin ging sie so weit, dass sie ein Konzert von einer tauben Person dirigieren liess, was, wie sie beschreibt, sehr gut funktioniert habe: Der Dirigent habe sehr wohl wahrgenommen, was die Leute spielten und habe sie in einer musikalischen Art, mit rhythmischen Bewegungen angeleitet.

Hören als zwischenmenschlicher Sinn

Wir können auditive Wahrnehmung nicht nur über die Ohren, sondern über den ganzen Körper verstehen. Ein «offenes Hören» kann einen zudem in zwischenmenschliche Gefilde führen. So geht der französische Philosoph Jean-Luc Nancy davon aus, dass das Hören grundsätzlich ein methexischer Sinn sei, das heisst ein Sinn, der mit Teilhabe und dem Teilen zu tun habe. Redensarten wie ganz Ohr sein, jemandem sein Ohr leihen oder ein offenes Ohr für jemanden haben, würden darauf hinweisen. So findet sich im Hören das Potenzial, dass wir im Umgang mit anderen Menschen zu aufmerksameren und empathischeren Zuhörenden werden.

Der vor rund einem Jahr verstorbene vietnamesische Zen-Mönch Thich Nhat Than verstand unter Deep Listening ein Compassionate Listening – ein Hören, das Mitgefühl als seine Essenz hat, um Leiden zu verringern. Doch hätte das Hören, so Nancy, in unserem Sprachgebrauch auch mit Trennung und «Ansteckung» (contagion) zu tun, worauf Begriffe wie kein Gehör finden, Verhör, gehorchen, gehorsam oder jemandem hörig sein, verweisen würden. So liegen im Hören zwei sich kontrastierende Extreme verschüttet, die mit Aufmerksamkeit und empathischer Nähe, aber auch mit zwischenmenschlicher Distanziertheit, Hierarchien und gewaltsamer Kontrolle zu tun haben. Dies unterstreicht, wie und warum das Hören als ein Sinn aufgefasst werden kann, der einen selbst und andere vielleicht wie kein anderer Sinn affizieren kann.

Der erste Teil der Doppelkolumne über den Hörsinn thematisiert mitunter bewusstes Hinhören und kulturelle Wahrnehmungsfilter.

Patricia Jäggi

Patricia Jäggi ist seit 2012 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung Musik der Hochschule Luzern tätig. Bereits in ihrer Dissertation zur akustischen Repräsentation von Schweiz im internationalen Radio hat sie sich mit Klängen als kulturellen Objekten auseinandergesetzt ([Im Rauschen der Schweizer Alpen](https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5164-5/im-rauschen-der-schweizer-alpen/), 2020). Mit Klanganthropologie und Human-Animal Studies kombiniert sie in ihrem neuen Projekt zwei Felder, die für die gegenwärtige Entwicklung kulturwissenschaftlich-ethnografischer Forschung von grosser Relevanz sind. Die Erkenntnisse und Erfahrungen aus ihrer Forschung vermittelt Patricia Jäggi nicht nur in wissenschaftlichen Texten, sondern auch in Form von Soundwalks oder Ausstellungen – und ab Dezember 2021 in ihrer Kolumne.
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