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Eine Frage des Vertrauens: Filmen bei Demonstrationen

Wenn bei politischen Demonstrationen gefilmt wird, handelt es sich schnell um brisantes Material. Christine Hämmerlings ethnografische Erhebung zeigt, dass schon während des Demonstrierens mitgedacht wird, wie sich die Aufnahme auf den politischen Diskurs auswirken mag. Somit wird die Frage, wer bei einer Demo filmen darf, eine nach Vertrauensbeziehungen.[i]

Der Beitrag erschien im Bulletin 2019/3. Für die vorliegende Version wurde er von der Autorin aktualisiert und neu verortet.

Bei politischen Demonstrationen wird demonstriert, aber es wird auch gefilmt: Es filmen Journalist:innen, Polizist:innen, Passant:innen und Demonstrierende. In diesem Text geht es mir um die Frage, wie sich diese verschiedenen an Demonstrationen beteiligten Akteur:innen zu den Demo-Videoaufzeichnungen verhalten. Welche Konstellationen von Vertrauen und Misstrauen tauchen dabei auf?

Als ethnografisch arbeitende Kulturwissenschaftlerin nutze ich Interviews, teilnehmende Beobachtung und verschiedene Text-, Bild- und Video-Analysen, um Praktiken des Filmens auf Demos nachzuvollziehen. Diese Herangehensweise lässt erkennen, dass schon während der Aufzeichnung von Videos deren spätere Nutzung mitgedacht wird, sowohl von den Filmenden als auch von den Gefilmten. Welches Filmmaterial also überhaupt entsteht, ist im Kontext des Demonstrierens als selbstreflexive Praxis zu deuten.

Demonstrierende sind darauf vorbereitet, dass ihr Handeln zum Beispiel von der Polizei, oder aber auch von Teilnehmer:innen einer Gegen-Demonstration gefilmt werden könnte. Und sie stellen eigene Aufnahmen her, um sich in die Aushandlung der Repräsentation des Geschehens medial einzubringen. Ich plädiere deshalb dafür, auch die Entstehungskontexte mit einzubeziehen, wenn es um die Frage geht, welcher Wert Videoaufzeichnungen von Demonstrationen zukommt.

Individualisierte Gegenbilder: Videoaktivismus

Videoaktivist:innen filmen alles Mögliche, oft auch politische Demonstrationen. Dahinter steht die Hoffnung, mit eigenen Videobeiträgen politisches Wissen besser verbreiten zu können und «Mainstreammedien» einen Gegenpol zu bieten, wie es etwa auf der Homepage des Netzwerks Brave New Films heisst. Dieser Videoaktivismus kam Anfang der 1990er Jahre auf, unter dem Stichwort des «video activism» ist das Filmen zu einer Art Bewegung geworden.[ii]

Da seitens der Polizei seit den 1990er Jahren mancherorts routinemässig Kameras im Einsatz sind, kam es immer wieder zu der Forderung, das Handeln der Polizei müsse ebenso festgehalten werden.

Die Polizeigewalt beim G8-Gipfel 2001 in Genua, wo der italienische Demonstrant Carlo Giuliani erschossen wurde, sowie Debatten um die Kennzeichnungspflicht von Polizist:innen in den 1990er Jahren in Deutschland (Brief der Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizistinnen und Polizisten (Hamburger Signal) e.V. versus Stellungnahme der Gewerkschaft der Polizei Niedersachsen) liessen ebenfalls den Ruf laut werden, Polizeiaktionen müssten gefilmt werden.

Bei Demo-Videos, also Videos von Demonstrationen, geht es oft um die Beweiskraft der Aufnahme. Diese Beweiskraft geht über den juristischen Wert der Aufnahme hinaus. In den Videos wird eine politische Dringlichkeit, Brisanz, Faktizität und Körperlichkeit versinnbildlicht, die audiovisuell oft durch wackelnde, unscharfe Bilder, Unübersichtlichkeit und Unverständlichkeit der Abläufe und einen hohen Lautstärkepegel vermittelt werden – besonders anschaulich im Videomitschnitt einer eskalierenden Kundgebung der Roten Flora 2013 in Hamburg.

Je nach Schnitt, musikalischer Untermalung und sprachlicher Rahmung vermitteln Filmausschnitte zu Demonstrationen scheinbar authentische Einblicke in soziale Bewegungen. Das Videomaterial muss als Bestandteil politischer Verhandlungen verstanden werden. Dass Demo-Videos Relevanz im politischen Diskurs erhalten, gilt heute umso mehr, da Video-Clips in Nachrichten eingebunden und in sozialen Netzwerken geteilt werden.

Wer filmt bei Demos mit welchem Motiv?

Manchen Fragen – etwa nach der Gewaltbereitschaft von Demonstrierenden und Polizist:innen – wird heute im politischen Diskurs vermehrt mit audiovisuellem Material nachgegangen. Meiner Eingangsthese nach müsste das Aufzeichnen von Videos seitens der Demonstrierenden aber auch bereits während der Aufnahme reflektiert werden. Um diese Perspektive einzufangen, interviewte ich eine Reihe demonstrationserfahrener Personen und zudem Teilnehmende (Demonstrierende, Polizei, Kamerateams) einer Anti-TTIP-Demonstration am 23. April 2016 in Hannover, die ich teilnehmend beobachtete.

Eine meiner Interviewpartner:innen[iii], Kristina Reuss, sagte, sie habe bei Demonstrationen die Erfahrung gemacht, dass Polizist:innen «nicht ganz so ruppig» handelten, wenn «die Presse» da war. In dieser Logik setzt die journalistische Kamera die Situation einer erweiterten Öffentlichkeit aus und wirkt damit zeugenhaft und kontrollierend auf das Hier und Jetzt ein. Dabei unterscheiden Demonstrierende zwischen einer journalistischen, gewaltvermeidenden Kamera, die eine Öffentlichkeit involviert, die ihnen positiv gegenübersteht, und einer polizeilichen oder einer oppositionellen Gruppe zuzuordnenden Überwachungskamera, bei der davon auszugehen sei, dass sie gegen die Demonstrierenden eingesetzt wird.

Bodycam – Screenshot aus dem Vox-Clip "Why recording the police is so important", 0:33.

Denn auch von neonazistischen Gruppen sei Kristina beim Demonstrieren schon fotografiert worden. Dies deutete sie als «Drohgebärde» nach dem Motto: «Ich habe eure Gesichter». Daher vermumme sie sich gelegentlich auch, um nicht auf Bildmaterialien festgehalten zu werden. Es ist bekannt, dass Demonstrierende oppositioneller Gruppen sich gegenseitig filmen. Auch meine Interviewpartner:innen kennen Personen, die mehr oder weniger professionell Demos von Rechtsradikalen dokumentieren. Mit solchen im Nachhinein kommentierten und öffentlich zugänglich gemachten Aufnahmen kann nachvollzogen werden, welche Personen bei welchen Demonstrationen zu sehen waren, ob illegale Symbole mitgeführt wurden etc.

Wenn Passant:innen und Demo-Teilnehmende in Zivil auf Demos filmen, hält Kristina das meist nicht für problematisch. Bei der Hannoveraner Bündnis-Demo, die ich forschend begleitete, wurde sehr viel von Privatpersonen gefilmt.

TTIP-Demo 2016 in Hannover, Aufnahme der Autorin

Filmende Demonstrierende verfolgten dabei gemäss meiner kleinen Umfrage wenig strategische Ziele: Sie wollten sich mit der Handykamera im Gewimmel einen Überblick verschaffen, wollten für sich und Freunde festhalten, wie viele Menschen an der Demo teilgenommen haben, sie filmten aus Langeweile oder hofften, zufällig etwas Interessantes einzufangen, während sie die Kamera auf die Massen oder sich selbst richteten.

Ihr Filmen entspricht in weiten Zügen dem von Ute Holfelder und Christian Ritter für Jugendliche untersuchten Handyfilmen im Alltag. Die Vorstellung, mit dem eigenen Filmbeitrag eine breite Öffentlichkeit für das Thema der Demo zu interessieren, ist von den selbstbezüglichen Alltagspraktiken der Selfie-Aufnahme nicht sauber zu trennen. Zwei meiner Interviewpartner:innen, Niko Irmgarten und Olivia Zweig, beide sehr demonstrationserfahren, ordneten das Filmen durch Personen in Zivil hingegen als potenziell problematisch ein, schliesslich könnten die Bilder «in die falschen Hände» geraten.

Dennoch gibt es Personen aus dem Kreis der Demonstrierenden, von denen andere davon ausgehen, dass sie wissen, wie sie mit Videomaterial umzugehen haben. So kommt es, dass auch mein Interviewpartner Niko gelegentlich gebeten wird, bei Demos Aufnahmen anzufertigen. Dabei geht er allerdings vorsichtig vor. Er mischt sich nicht weiter ins Geschehen ein und zieht die Fotokamera dem Video vor. Schliesslich geht es ihm nicht um das Festhalten von Gewaltaktionen, sondern darum, entweder die schiere Präsenz von befreundeten Gruppen bei Demos einzufangen, ohne dass Einzelne identifiziert werden – oder aber er will bei Nazi-Demos gezielt Gesichter festhalten, um rechte Strukturen zu erschliessen.

Fragen nach Vertrauen und Wissen

Immer wieder geht es bei der Entscheidung darüber, welchen Menschen mit Kamera zu trauen sei, um Erfahrungswerte, den Grad der Informiertheit und den Umgang mit Wissen. Das Filmen auf Demos stellt also eine Vertrauens- und eine Wissensfrage dar. Die Thematik des Vertrauens zeigt sich in zweifacher Logik. Das Misstrauen gegenüber dem staatlich regierten Umgang mit Demo-Videos stellt eine gemeinsame Basis dar für das auf Solidarität setzende Vertrauen, das dem Einzelnen zuteilwird, der eine Gruppe filmen darf.

Schon in der Demo vorausgehenden Absprachen wird eine Begrenzung des Risikos anhand einer «vernünftigen Erwägung von Verlässlichkeit und Regelkonformität» herbeigeführt, so schreibt die Historikerin Ute Frevert in Vertrauensfragen (2013). Zudem handelt es sich im Kontext von Demo-Videos um ein Vertrauen, das darauf schaut, welche Motive der:die andere hat. Es schaut auf den Willen des:der anderen, wie es der Philosoph Martin Hartmann in Die Praxis des Vertrauens (1994) ausdrückt. Dieser Wille wird über die Bekanntheit von Individuen in sozialen Strukturen und aus Erfahrungswerten abgeleitet. Es ist nicht im engeren Sinne die Person, der hier vertraut wird, sondern vertraut wird einem Wissens- und Erfahrungsnetzwerk.

Diese Vertrauensverhandlungen zum Filmen auf Demonstrationen sind keineswegs abgeschlossen. Während einerseits professionalisierte Strukturen Regeln aufstellen und Hilfen anbieten, um das Filmmaterial in den Griff zu bekommen, führen andererseits die Allgegenwart von Handykameras und die anhaltende Lust am Videoaktivismus zu sehr lockeren Umgangsweisen mit der audiovisuellen Aufzeichnung. Tools, die Techniken der Videomontage auch Laien zur Verfügung stellen, lassen immer wieder Zweifel an der Qualität von Videos als Beweismaterialien aufkommen. Dennoch sind Überwachungskameras weiter auf dem Vormarsch.

Es ist also zu erwarten, dass in Zukunft auf Demonstrationen noch mehr Videos aufgezeichnet werden als bisher. Wie diese Materialien aber gesichtet, verbreitet, ausgedeutet oder reglementiert werden, bleibt – zum Glück – noch weiter in Verhandlung.

Christine Hämmerling

Christine Hämmerling ist seit September 2024 Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Universität Göttingen. 2014 bis 2023 war sie Oberassistentin am ISEK – Populäre Kulturen, Universität Zürich. Nach dem Studium in Tübingen und Prag ([Today is a Holiday, 2012](https://tvv-verlag.de/publikationen/today-is-a-holiday-freizeitbilder-in-der-fernsehwerbung/)) beschäftigte sie sich mit sozialen Positionierungen beim Medienkonsum ([Sonntags 20:15 Uhr, 2016](https://univerlag.uni-goettingen.de/handle/3/isbn-978-3-86395-266-2)). Aktuell forscht sie zu Vertrauen und Authentizität in Professionalisierungsprozessen.
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