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Der Schlager kam, das Volkslied ging?

Das Schweizerische Volksliedarchiv entstand in einer Gegenbewegung zur Entwicklung und zum Erfolg des modernen Schlagers im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Die neuen Möglichkeiten der technischen Reproduzierbarkeit von Klängen spielten für das Sammlungs- und Archivierungsprojekt dabei eine ambivalente Rolle. Angestossen von den Gründervätern der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde, wird im Rückblick erkennbar, dass das Volksliedarchiv auch stark von Frauen geprägt wurde.

Angesichts von Boomboxen und Musikstreaming ist es heute nur schwer vorstellbar, wie Musik vor über hundert Jahren gehört wurde – zu der Zeit also, als das Schweizerische Volksliedarchiv entstand. Um dessen Entstehung und Quellen soll es in diesem Beitrag gehen.

Um 1900 hatte längst nicht jede:r Zugang zu den neuen Unterhaltungsmedien Phonograph und Grammophon, und auch in den 1920er Jahren war das Radio noch längst nicht im Alltag angekommen; diese neuen Technologien gelangten erst nach dem Zweiten Weltkrieg in praktisch jeden Haushalt. Wer Musik geniessen wollte, wurde bis in die 1930er Jahre meist noch selbst aktiv: Instrumente und Gesang, «live» vorgetragen oder selbstgemacht, bildeten den Zugang zur musikalischen Klangwelt. Ein anderes Angebot machten Musikautomaten: Sie ermöglichten den Musikkonsum im Gasthaus oder auf dem Jahrmarkt gegen eine Münze – Spotify in analog.

Technisierung der Klangwelt

Mit der Erfindung des Phonographen (1877) erschien etwas revolutionär Neues in der Lebenswelt: die «technische Reproduzierbarkeit» (Walter Benjamin) von Klängen. Mit der «Technisierung der Klangwelt»[i] und der Trennung von Klang und Quelle entstand eine neue Industrie: Stücke wurden nun extra für Tonträger und andere (Speicher-)Medien wie Radio und Film komponiert und produziert; Lieder wurden nicht mehr nur mündlich weitergegeben, in Notenheften notiert oder auf Liedzetteln verkauft, sondern auf Tonträgern zum Anhören vermarktet – das Lied wurde zur Ware.[ii] Nicht nur Melodie und Text, sondern auch Interpret:in, Sound und Werbung wurden wichtig für den Erfolg. Es entstand ein Musikmarkt, auf dem die «leichte» Musik bald den grössten Teil ausmachte – schätzungsweise drei Viertel der verkauften Musik bereits um das Jahr 1929[iii]: Der Schlager war geboren[iv]

Vor diesem Hintergrund der technischen Innovationen, mit der die moderne Zivilisation seit dem 19. Jahrhundert sich unübersehbar per Eisenbahn, Schiff und Elektrizität bis in die letzten Winkel der Welt verbreitete, drohten, so die Angst vieler Zeitgenossen, die alten Lieder ebenso zu verschwinden wie die traditionellen Lebenswelten insgesamt. Es galt daher, «die letzten Überreste vergangener Kulturepochen in die Scheunen zu bringen, bevor auch sie von der Sturmflut internationaler Zivilisation für immer weggeschwemmt sein würden», wie Hoffmann-Krayer, einer der Gründungsväter der Volkskunde, in einem programmatischen Vortrag formulierte.[v]

Begleitschreiben einer Liedeinsendung ans Schweizerische Volksliedarchiv. Mit Buntstift ergänzt finden sich oben die vom Volksliedarchiv zugeordneten Liednummern (Foto: J.M.)

Ist das Schweizerische Volksliedarchiv solch eine Scheune für «von den Vätern ererbtes Volksgut», dessen Sammlung «heilige Pflicht» war, wie es im Gründungsaufruf der Sammlung hiess?[vi] Neben dem Bewahren sollte das Liedgut aber auch wieder erklingen – so das Vorhaben, das die Volkskundler:innen und die Musikliebhaber:innen fassten.[vii] Es sollte «eine umfassende Ausgabe Schweizerischer Volkslieder» hergestellt werden «und dann auf Grund dieser eine Auswahl des Wertvollsten für die weiteren Kreise des Volkes» erscheinen.[viii] Seine Einrichtung war durch die kooperierenden Vereine, darunter der Schweizerische Lehrerverein und der Verein Schweizerischer Gesang- und Musiklehrer gesellschaftlich breit abgestützt, und so gelangten bald viele Einsendungen ans Archiv. Doch das Ziel einer grossen Liederedition sollte nicht aufgehen und später anders verwirklicht werden als geplant – dank der Mitarbeiterinnen.

Lebendiges Archivprojekt

Dies ist ein interessanter Umstand, der noch genauer zu erforschen ist: Männer initiierten das Volksliedunternehmen, doch Frauen hatten einen grossen Anteil daran, die Idee zu einem lebendigen Archivprojekt weiterzuentwickeln.[ix] Blickt man ins Korrespondenzarchiv, bot das Volksliedarchiv offenbar gerade für Frauen eine einladende Möglichkeit, sich an einem «echt patriotische[n] Werk»[x] zu beteiligen. So sendet zum Beispiel schon im Januar 1907 (also nur wenige Wochen nach dem Sammlungsaufruf) eine offenbar ältere Dame, Frau Steiger aus Bülach ZH, adressiert an John Meier, einige Lieder, aufgeschrieben in «Verschen» ein, «wie ich dieselben in meiner Jugend noch als Kind singen hörte». Sie schreibt ihre Lieder, wie viele Einsender:innen, ohne Melodie auf, doch sinniert sie: «[J]a wenn ich solche hier auf’s Blatt singen könnte und mit wandern lassen könnte […]». Bei späteren Forschungsprojekten der SGV kam dann auch ein Phonograph zum Einsatz.

Frauen hatten einen grossen Anteil daran, die Idee zu einem lebendigen Archivprojekt weiterzuentwickeln.

Catharina Streiff aus Glarus sendet im April 1907 Lieder ein, mit exzellenten Kontextinformationen versehen, die akademische Bildung und Methoden verraten: «Die hier aufgezeichneten Verschen sind mir alle aus meiner Kinderzeit bekannt (mein Alter ist zwanzig Jahre), sie waren aber auch samt und sonders zur Zeit meiner Eltern gebräuchlich und zwei davon: III.1. u. IV.1. stammen schon von meiner Urgrossmutter, geb. 1805, her.»[xi] Über die Jahrzehnte gelangten so tausende von Einsendungen ins Archiv, die alle verzeichnet und erschlossen werden wollten.

Dieser Aufgabe widmete sich eine junge Frau mit akademischer Ausbildung: Adèle Stoecklin (1876–1960). Stoecklin, Schülerin von Hoffmann-Krayer und Meier, betreute ab 1906 die SGV-Bibliothek. Eine feste Anstellung blieb ihr zeitlebens verwehrt – als Honorarkraft verzeichnete und erschloss Stoecklin die Liedzuschriften und übernahm auch die Korrespondenz mit den Einsender:innen. Ihre systematische Arbeit an der Sammlung ist bis heute grundlegend für das Volksliedarchiv. Die Lieder liegen nummeriert und nach Titeln und Incipits (Liedanfängen) sowie Personen erschlossen vor und bilden einen Kern des Archivs. Ihr hat die SGV es ihr zu verdanken, dass 1921 tatsächlich ein Liederbuch in Eigenregie erschien: Weihnachts- und Neujahrslieder aus der Schweiz (Abb. 2).[xii] Das Heft wurde für vier Franken verkauft und enthält 83 Lieder, die in der Mehrzahl aus dem Schweizerischen Volksliedarchiv stammen und mit Melodie und Quellennachweis abgedruckt sind.

Weihnachts- und Neujahrslieder aus der Schweiz, hg. von Adèle Stoecklin im Auftrage der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde (1921, Cover).

Der Schlager kommt, das Volkslied geht – vielleicht war dies, in überzeichneter Kurzform, die Furcht der Ethnograf:innen vor dem Vergehen des Singens und Musizierens im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts (erst in den 1960er Jahren entstanden Studien zum Schlager, angeregt von Hermann Bausinger, die diese Befürchtungen widerlegen konnten). Der entstehende Musikmarkt mit seinen populären Schlagerheften und -tonträgern jedenfalls inspirierte auch die SGV. Auch wenn das Ziel einer grossen Liederedition nicht erreicht wurde, so bildete die Herausgabe des Liedguts für breite Bevölkerungskreise das Ideal, an dem sich die Sammlung und die Einzelveröffentlichungen orientierten. Bemerkenswert ist auch, dass die Volkskundler:innen, trotz einer gewissen Technikskepsis, welche die volkskundlichen Unternehmungen leitete, paradoxerweise die modernsten Transport- und Aufzeichnungsmittel für ihre Sammlungs- und Dokumentationstätigkeit nutzten, zum Beispiel Eisenbahn, Kamera und manchmal den Phonographen.

Suchbewegungen und Pfad-Finderinnen

Angesichts der neuen Technologien, die Anfang des 20. Jahrhunderts populär wurden, versuchten Volkskundler:innen mit ihren Sammlungsaktionen zu retten und zu popularisieren. Viele der archivierten Lieder sind heute noch lebendig: Immer wieder richten Chöre oder Forscher:innen Anfragen ans Archiv. Die Volksliedforschung ist ein Beispiel für die frühen Suchbewegungen der Volkskunde. Wie erste Quellensichtungen zeigen, beteiligten sich Frauen lebhaft an der Volksliedsammlung; Ursache könnte sein, dass sie durch ihre damalige soziale Rolle, insbesondere die Kindererziehung, besonders viele Lieder kannten und auch das Weitergeben von Liedern für sie gängige Praxis war. Die musikalische Volkskunde als eher «weiches» Forschungsfeld bot zudem gerade offenbar für Frauen in der akademischen Welt einige, wenn auch prekäre, Möglichkeiten, sich wissenschaftlich zu engagieren. Es bleibt genauer zu beleuchten und zu würdigen, welche Pfade sie dabei gingen, welche neuen Wege sie auch einschlugen und wie sie unscheinbar, doch nachhaltig dazu beitrugen, eine ganze Disziplin voranzubringen.

Johannes Müske

Johannes Müske ist Kulturanthropologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Freiburg. Seit 2021 leitet er gemeinsam mit Senta Bindschädler das Volksliedarchiv der SGV. Seine Forschungsinteressen sind Kulturerbe, populäre Musik, Arbeit und Technik. Kontakt: [johannes.mueske@zpkm.uni-freiburg.de](mailto:johannes.mueske@zpkm.uni-freiburg.de)
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