Zur Wohnqualität einer Siedlung «am Ende ihres Lebenszyklus»
In Zürich werden seit einigen Jahren viele Siedlungen abgerissen, anstatt sie zu sanieren oder im Bestand weiterzubauen. Die Argumente, mit denen die jeweiligen Bauherr:innen ihre Abbruchvorhaben begründen, weisen grosse Ähnlichkeiten auf. Dieser Beitrag wirft ein kritisches Licht auf die vorherrschende Abrisspraxis und zeigt anhand einer ethnografischen Wohnforschung, welche Qualitäten eine beinahe hundertjährige, zum Abbruch freigegebene Genossenschaftssiedlung aus Sicht ihrer Bewohner:innen zu bieten hat.
Eine bald hundertjährige Wohnkolonie, Zeugin des «Roten Zürich», wird zum Abriss freigegeben. Angeblich «am Ende ihres Lebenszyklus angelangt»[i], ist sie nach Ansicht der Genoss:innenschaft nicht mehr gesundzubauen. Doch es regt sich Widerstand und der Abbruch verzögert sich um Jahre, sodass sie bis heute das Zuhause von mehreren Hundert Menschen ist. Was die einen als «unzeitgemäss» und nicht mehr den «heutigen Bedürfnissen»[ii] entsprechend bewerten, ist für andere ein lebenswerter Ort, an dem sie sich «wohl» und «aufgehoben» fühlen. Letztere schätzen die «Wohnatmosphäre» in ihren eigenen vier Wänden und die «Lebensqualität» des vor fast hundert Jahren entworfenen, grosszügigen Innenhofs, wie meine ethnografischen Erhebungen zeigen.
Im Rahmen meiner Bachelorarbeit in Populäre Kulturen an der Universität Zürich habe ich mich der im Jahr 1930 erbauten Siedlung «Kanzlei» der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich (ABZ) im Sihlfeldquartier ethnografisch angenähert und aus einer subjektorientierten Perspektive nach der Wohnqualität für ihre Bewohner:innen gefragt. Wie beurteilen die Bewohner:innen der ABZ-Siedlung Kanzlei ihre Wohnqualität und woran machen sie diese fest? Welche Wohnbedürfnisse haben sie und was bedeutet in ihren Augen «gutes» Wohnen? Um mir den Wohnalltag und die Lebenswelten der Bewohner:innen zu erschliessen, habe ich im Rahmen einer schriftlich wie fotografisch dokumentierten Feldforschung mehrere qualitative Interviews geführt. Für meine Forschung konnte ich vier Interviewpartner:innen gewinnen: Andrea, Denise, Nathalie und Rafael, alle um die 40 Jahre alt.[iii] Dass eine Siedlung wie die Kanzlei abgebrochen werden soll, ist im Zürich der Gegenwart alles andere als ein Einzelfall.
Zürich im «Abbruchfieber»
«In den Schweizer Städten geht eine Abriss-Manie um»[iv], titelte die Neue Zürcher Zeitung im Jahr 2020. Dieser Trend hat weitreichende ökologischen und soziale Konsequenzen. Die Baubranche ist mit ihrem enormen Rohstoffverbrauch und Abfallvolumen zusammen mit der Mobilität die landesweit grösste Treibhausgas-Emittentin: Beide Bereiche kommen auf einen Anteil von knapp 30 Prozent.[v] Gemäss einer kürzlich erschienenen Studie der Eidgenössichen Technischen Hochschule Zürich[vi] führen die mit Ersatzneubauten einhergehenden Mietzinserhöhungen zu direkten Verdrängungen von vulnerablen Personengruppen[vii]. Zudem können auch denkmalpflegerische Erwägungen für den Erhalt alter Bausubstanz sprechen. So argumentierte der Zürcher Heimatschutz im Fall der Kanzlei, dass die Siedlung als Teil eines städtebaulich in sich geschlossenen Quartierbilds und aufgrund ihrer baukünstlerischen Eigenschaften als schützenswert einzustufen sei. Die hegemoniale Praxis von Abriss und Neubau, in Medien und Politik regelmässig und auch in einem der von mir geführten Interviews als Tabula rasa-Vorgehen bezeichnet, wird in der letzten Zeit von verschiedener Seite immer deutlicher infrage gestellt.[viii] Wichtige kritische Stimmen kommen aus der Architektur und ihr angelagerter Fachdisziplinen, aber auch in der Zivilgesellschaft regt sich Widerstand. Die Debatte über den Abbruch der Kanzlei ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Wäre es nach dem Willen der Genoss:innenschaft gegangen, hätte die in die Jahre gekommene Siedlung schon lange einem verdichteten Ersatzneubau weichen müssen. Nicht zuletzt aufgrund einer Einsprache vonseiten des Zürcher Heimatschutzes prägt sie aber noch heute das Quartierbild.
Die Kanzlei ist eine typische Hofrandbebauung, wie sie in Zürich ab den frühen 1920er Jahren gebaut wurde.[ix] Gemäss der ABZ ist die Siedlung «am Ende ihres Lebenszyklus angelangt» – eine Formulierung, die impliziert, dass sie nicht mehr saniert werden sollte. Des Weiteren wird argumentiert, dass mit dem Neubau «deutlich mehr zeitgemässer und kostengünstiger Wohnraum» geschaffen werden könne.[x]
Solche und ähnliche Argumentationsmuster werden von Bauherr:innen regelmässig ins Feld geführt, wenn es um die Legitimierung von Abrissen geht. Was jedoch unter Begriffen wie «zeitgemäss» und «heutige Bedürfnisse» genau zu verstehen ist, bleibt dabei oft im Dunkeln. Sofern deren Bedeutung explizit gemacht wird, finden sich in öffentlich zugänglichen Dokumenten meistens Verweise auf quantitative Grössen, etwa auf eng geschnittene Grundrisse mit kleinen Zimmern oder einen tiefen Ausbaustandard. Meine Feldforschung verdeutlicht, dass diese Begrifflichkeiten weniger die Bedürfnisse einer Mehrheit von Mieter:innen widerspiegeln, sondern vielmehr als strategische Argumente verstanden werden müssen, die vorgebracht werden, um eine hegemoniale Wohnbaupraxis zu stützen. Was die Mieter:innen unter hoher Wohnqualität verstehen, bleibt üblicherweise aussen vor.
Wie gehen meine Gesprächspartner:innen mit der für eine Arbeiter:innenwohnung aus der Zwischenkriegszeit charakteristischen kleinteiligen Raumstruktur, dem veralteten Ausbaustandard und der Hellhörigkeit um? Inwieweit empfinden sie die Faktoren, welche im Wohndiskurs von Verfechter:innen einer «Tabula rasa-Praxis» üblicherweise für die Legitimierung eines Abbruchs ins Feld geführt werden, als Mangel?
Hohe Wohnzufriedenheit und Liebe zum Altbau
Alle vier Befragten haben zwar ein gewisses Verständnis für die Position der Genoss:innenschaft, den Abrissplänen stehen sie aber skeptisch bis ablehnend gegenüber. Nathalie und Andrea üben scharfe Kritik am Vorhaben der ABZ und beziehen sich in ihrer Argumentation auf den aktuell geführten «Abrissdiskurs». Sie fordern einen «kreativen» Umgang mit der Bausubstanz und sehen mögliche Lösungen in einer Aufstockung und einer Veränderung der Grundrisse, um vielfältigere Wohnungstypologien zu schaffen.
Kritisiert wird an den Wohnungen erstaunlich wenig, und wenn, dann eher in relativierender oder humorvoller Weise. Ein Aspekt, der von allen Interviewten angesprochen wird, ist die Hellhörigkeit. In diesem Zusammenhang scheinen Toleranz und gegenseitige Rücksichtnahme wichtige Werte zu sein und es wird von einem Gewöhnungsprozess gesprochen. Nathalie nimmt es mit Humor, dass sie aus den benachbarten Wohnungen nicht nur die WC-Spülung hört, sondern auch, «wenn die Leute pinkeln». Rafael relativiert Alter und «Ringhörigkeit» der Wohnung, indem er auf den «unschlagbaren» Mietzins verweist: Im Vergleich zu anderen würden er und seine Familie nur «einen Drittel oder halb so viel» bezahlen. Die circa 80 Quadratmeter grosse Vierzimmerwohnung, die er mit seiner vierköpfigen Familie bewohnt, kostet monatlich lediglich um die 1000 Franken.[xi]
Obwohl die Wohneinheiten verglichen mit den aktuellen Baustandards als eng und kleinteilig gelten mögen, sehen meine Gesprächspartner:innen in ihnen durchaus räumliche Qualitäten. Rafaels stimmungsvolle Erzählung zur Nutzung des dreiecksförmigen Erkers in seinem Wohnzimmer lässt auf eine besondere Verbundenheit mit diesem Ort schliessen. Die Momente, in denen er oder andere Familienmitglieder auf dem Sessel vor dem Fenster sitzen und die Aussicht in den ruhigen Innenhof geniessen, empfindet er als «friedlich».
Andrea hingegen schätzt an ihrer Wohnung den direkten Zugang zur Dachterrasse, die sie mit zwei Nachbarinnen teilt. Darin sieht sie ein «Privileg», das in besonderem Masse zur guten Wohnatmosphäre beitrage. Auf der Dachterrasse kümmert sie sich um ihre Pflanzen, dort frühstückt sie, geniesst den Ausblick auf die Blutbuche im Innenhof oder unterhält sich mit ihren Nachbarinnen. Nathalies «Hauptaufenthaltsort» ist ihre Küche. Der Blick aus dem Küchenfenster ermöglicht es ihr, das Geschehen im Hof zu beobachten und mit vorbeigehenden Nachbar:innen in Kontakt zu treten. Viele wüssten, dass sie sich oft in der Küche aufhalte und schauten deshalb im Vorbeigehen hoch und winkten ihr zu: «Also für mich ist das Leben im Hof und die Teilnahme daran aus der Küche etwas Wichtiges.» In Andreas und Nathalies Beispiel wird neben der räumlichen Dimension ein anderer Aspekt deutlich, der für die Wohnzufriedenheit von Bedeutung ist und bei allen Interviewten mehrmals Erwähnung findet: das Vorhandensein und die Qualität nachbarschaftlicher Interaktionen und Beziehungen.[xi]
Die Mehrheit der Interviewten bringt eine Liebe zum Altbau zum Ausdruck. Nathalies Wohnzufriedenheit etwa hängt nicht so sehr von der Anzahl Quadratmeter oder dem Ausbaustandard der Wohnung ab, sondern vielmehr von «weichen» Faktoren wie dem Gefühl der Vertrautheit und des Aufgehobenseins. In ihrer Wahrnehmung geht von alten Gebäuden wie der Siedlung Kanzlei ein besonderer «Charme» aus. Dieses Gefühl stellt sich bei ihr aufgrund spezifischer Eigenschaften des Altbaus ein, beispielsweise beim Anblick eines alten Parketts mit Patina. Als Kontrast dazu entwirft Nathalie ein Bild von Neubauten als charakterlose Gebilde mit glatter Oberfläche («08/15-Bauten mit Glasscheiben bis zum Boden runter»).
Wohnqualität als Atmosphäre
Wie sich in den Interviews zeigt, machen die Bewohner:innen Wohnqualität nicht an den häufig seitens der Bauherr:innen vorgebrachten «messbaren» Kriterien fest. Weitaus wichtiger sind «weiche» Faktoren wie «Charme», «Authentizität» und das Gefühl des «Aufgehobenseins» im eigenen Wohnumfeld. Wohnqualität lässt sich demzufolge nicht vollständig quantifizieren, sondern hängt ebenso von der subjektiven Wahrnehmung ab. Mit dem Rückgriff auf das Konzept der «Atmosphäre» kann Wohnqualität auch als ein räumlich abhängiges Erleben verstanden werden.
In den Kultur- und Sozialwissenschaften, vor allem in der Phänomenologie und der Körpersoziologie, gibt es verschiedene Versuche, Atmosphäre theoretisch greifbar zu machen. Laut der Soziologin Martina Löw sind Atmosphären die «in der Wahrnehmung realisierte Aussenwirkung sozialer Güter und Menschen in ihrer räumlichen (An)Ordnung».[xii] Löw attestiert also nicht nur den Menschen, sondern auch Materialitäten – also auch Architekturen – eine Aussenwirkung. Atmosphären sind folglich die «gemeinsame Wirklichkeit»[xiii], welche sich zwischen der wahrnehmenden Person und dem Wahrgenommenen im Aussen entfaltet.
Diese sinnlich-affektive Dimension kommt in meinen Gesprächen mit den Bewohner:innen immer wieder zum Ausdruck: Wie sie von ihrer Wohnumgebung emotional affiziert werden, wird beispielsweise darin deutlich, wenn Andrea von ihrem morgendlichen Ritual erzählt: «Im Hof sind noch ganz viele Hecken, und es zwitschert dann halt auch so viel. Ich finde, das hat so etwas sehr, sehr Nettes. Wenn ich morgens aufwache, bleibe ich irgendwie immer noch liegen, bis ich genug Vogelgezwitscher gehört habe, damit ich gut aufstehen kann.»
Der Begriff der Atmosphäre bietet einen ergänzenden, potenziell fruchtbaren Zugang zum Wohnalltag und hilft dabei, Wohnqualität – im eigentlichen Sinne des Wortes – qualitativ zu bewerten; eine Perspektive, die es verdient auch in politische Debatten über «gutes» Wohnen einzufliessen.
Die Auswertung meiner Interviews zeigt, dass Wohnqualität nicht allein von allgemeinen, quantifizierbaren Grössen, wie der Anzahl der zur Verfügung stehenden Quadratmeter, abhängt, wie es Verfechter:innen einer «Tabula rasa-Praxis», darunter viele Bauherr:innen, in Debatten um Abriss und Neubau regelmässig suggerieren. Trotz kleinteiliger Raumstrukturen, für heutige Massstäbe geringer Wohnfläche, veraltetem Ausbaustandard und Hellhörigkeit bewerten die Befragten ihre Wohnqualität positiv und fühlen sich in der Siedlung wohl.
Wie in ihren Erzählungen deutlich wird, spielen für die subjektive Wohnqualität und das Wohlbefinden der Bewohner:innen räumliche und atmosphärische Qualitäten, welche die fast hundertjährige Siedlung ihnen zu bieten hat, eine mindestens ebenso wichtige Rolle. Es verwundert daher nicht, dass sie sich kritisch zu den Abbruchplänen der ABZ äussern. In den Diskussionen um Wohnqualität, Wohnbedürfnisse sowie Abriss und Neubau finden die Stimmen von Bewohner:innen gegenwärtig aber kaum Gehör. Als Expert:innen ihres Wohnalltags hätten sie eigentlich viel zur Wohnbaudebatte beizutragen.