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Wahnsinn! Disko- und Schlagerkulturen seit 1960

Bei dem Wort «Diskothek» denkt man vielleicht an das Studio 54 in New York, an den Film Saturday Night Fever, an subkulturelle oder queere Phänomene in US-amerikanischen und europäischen Metropolen oder an glamouröse Orte und Abende. Doch wie sahen die Diskotheken aus, in denen die Menschen in Deutschland gefeiert haben – in kleineren Städten und auf dem Land? Und welche Musik ist dort erklungen?

In der öffentlichen Wahrnehmung wie in der Popgeschichtsschreibung gelten Diskotheken dezidiert als Orte der Moderne. Diese seien, so die Erzählung, in einem alternativen bzw. subversiven Milieu entstanden und erst allmählich in einen Pop-Mainstream eingegliedert worden. In Bezug auf ländliche Diskotheken meint der Musikwissenschaftler Holger Schwetter allerdings, die «Konzentration des Blicks auf die avantgardistischen Zentren der Popkultur» sorge für eine «Verengung des Blicks», irrtümlich nehme man an, «mit der Entwicklungsgeschichte der Avantgarden» auch die Geschichte der Verbreitung dieser neuen Kulturtechniken geschrieben zu haben.[i]

Der Sozialhistoriker Klaus Nathaus macht ebenfalls deutlich, dass der übliche, auch in der Forschung konstruierte «Erzählbogen vom subkulturellen Aufbruch zur kulturindustriellen Vereinnahmung» für die Diskothekenentwicklung in ihrer Breite nicht stimme.[ii] Ganz im Gegenteil, viele der Betriebe in den 1960er und 1970er Jahre seien in der Tradition der Tanzlokale der Nachkriegszeit gestanden. Es habe eine enge Verbindung zur heimischen Schallplattenindustrie gegeben, die zunächst nicht zur «Entstehung eines neuen Genres» von Tanzmusik beitrug – sondern zum Fortbestand des deutschen Schlagers. Auch die anvisierten Zielgruppen beschränkte sich in der Frühzeit der deutschen Diskothekenkultur keineswegs auf die Jugendlichen, sondern die Lokale versuchten ganz unterschiedliche Alters- und Interessensgruppen anzusprechen. Nathaus unterscheidet dabei zwischen den traditionelleren «Tanzbars» und den «Beat-Schuppen» für ein jüngeres Publikum.[iii]

Rustikaler Innenraum der Diskothek Waldpeter in Schönwald (Schwarzwald-Baar-Kreis), Erinnerungsmaterial des ehemaligen Betreibers Kai-Uwe Bitsch

Bemerkenswert ist, dass Betriebe mit altersgemischtem Publikum bis in die 1970er Jahre – und manchmal auch darüber hinaus – erfolgreich betrieben werden konnten: In einem Diskothekenführer aus dem Jahr 1999 war rückblickend zu lesen: «Wo nachmittags Teens zu ‹Waterloo› von Abba hotteten, drehten sich abends die Eltern zu Chris Roberts ‹Ich bin verliebt in die Liebe›. Und regelmäßig frönten auch die Rentner ihre Vorliebe für Rudi Schuricke oder für andere volkstümliche Töne.»[iv]

Tanzlokale standen also für drei Generationen offen, ein Sachverhalt, der in ländlichen Diskotheken durch eine entsprechende Programmdifferenzierung (während des Tages, während der Woche) fortgesetzt wurde.

Schlager als Disko-Hits

Zu den Fehlannahmen der westdeutschen Diskothekenentwicklung gehört auch, dass der Schlager als musikalisches Genre dort keine Rolle gespielt habe. Dies sei aber durchaus der Fall gewesen, wie Nathaus ebenfalls herausstellt: Gerade weil in Tanzbars ein altersgemischtes Publikum angesprochen werden sollte, «verboten sich polarisierende Rock-Klänge. Dagegen empfahlen sich aktuelle, tanzbare Hits deutscher wie englischsprachiger Provenienz».[v] Für die Tanzpausen seien die Platten des Bandleaders James Last zum Einsatz gekommen, insbesondere die 1965 begonnene Serie «Non Stop Dancing».[vi]

«Non stop dancing» auf dem Höhepunkt der Discowelle. Vinyl-Schallplatte von James Last

Mit der Entstehung der bundesdeutschen Diskothekenkultur habe es eine Zusammenarbeit mit der heimischen Musikindustrie gegeben: Die Plattenfirmen bemusterten Diskjockeys, umgekehrt veröffentlichten diese in der Branchenzeitschrift Musikmarkt monatlich eine «Club-Hit-Parade» und gaben dort Empfehlungen ab.[vii] Diese Listen waren zwar von englischsprachigen Titeln dominiert, aber deutsche Schlagerinterpret:innen durchaus präsent. Noch im Jahr 1968 wurden Titel wie «Mama» (Heintje), «Fortsetzung folgt» (Mary Rose), «Telegramm aus Tennessee» (Peggy March), «Es ist nicht gut, allein zu sein» (Cliff Richard), «Morgen bist Du nicht mehr allein» (Udo Jürgens) oder «Sag es mir» (Costa Cordalis) als Titel für die Disko beworben. Eine der letzten im Musikmarkt abgedruckten Empfehlungen, gleichfalls 1968, endete mit so braven Schlagern wie «Sing den Song» (Peter Kraus), «Tausend Fenster» (Udo Jürgens) oder «Sehnsucht» (Alexandra).[viii]

Sowohl die Deutsche Disc-Jockey Organisation wie der Branchenverband Deutsche Discotheken Unternehmer unterstützten auch in den folgenden Jahren die deutsche Musikproduktion und den heimischen Schlager. Die «Förderung des deutschen Schlagers in der Diskothek» war ein erklärtes Ziel des Verbandes. Ein Mittel hierzu waren die «Künstlermeetings», die zwischen 1968 und Mitte der 1970er Jahre stattfanden. Bei einem solchen Treffen präsentierten sich beispielsweise Jürgen Marcus, Peter Maffay und Tony Marshall vor den führenden deutschen Musikproduzenten. Die Künstler:innen, die auf diesen Meetings auftraten, konnten auch für Live-Events in Diskotheken gebucht werden. Nathaus hebt hervor, Diskotheken hätten Mitte der 1970er Jahre «den Höhepunkt ihrer Bedeutung für die heimische Musikindustrie» erreicht: «Ihre Funktion als ‹Hit-Macher› erfüllten sie dabei vor allem als Kontaktbörse für Branchenangehörige und als Probebühne für potenzielle Schlagersterne».[ix]

Landdiskotheken im südwestdeutschen Raum

In einer Studie zu den Diskotheken im ländlichen Raum[x] konnte der Befund erhärtet werden, dass noch Ende der 1970er Jahre die Betriebe keineswegs ausschließlich jugendaffin oder gar subkulturell erscheinen wollten, sondern mit ihrer Gediegenheit und Wohlanständigkeit warben. Entsprechendes galt für das Musik- und (Live-)Programmangebot: Ländliche Diskotheken boten selbstverständlich Rock- und Beatmusik an, später zuweilen auch Disko und Techno, waren aber auch für Schlager und sogar für volkstümliche Musik offen.

Wenn man auf die Entstehungsgeschichte konkreter Lokale schaut, wird deutlich, dass diese oft aus bereits vorhandenen Dorfgaststätten hervorgegangen sind. Oft wurde die mehr oder minder rustikale Einrichtung weitergeführt und lediglich in eine neue Beleuchtung und in ein Soundsystem – zwei Schallplattenspieler mit Lautsprechern – investiert.[xi] Allerdings suchten auch neuerbaute Gaststätten nach Rustikalität, manchmal zeigte sich das bereits im gewählten Namen. So gab es in Südwestdeutschland – im Regierungsbezirk Freiburg (Breisgau) – Diskotheken, die als Heuboden (Umkirch), Waldpeter (Schönwald) oder Mühlenklause (Freiamt) firmierten.

In den 1970er Jahren warben einige Betriebe nicht etwa mit einem Spannungsschema, das später dem Erlebnisraum Diskothek zugeschrieben wurde, sondern ganz im Gegenteil mit bürgerlichem Ambiente. Eine Broschüre des Jahres 1978 aus dem Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald zeigt drei Tanzlokale, die als «Treffpunkt für Jung und Alt» gelten wollten, Entspannung und Erholung versprachen oder sonntags zum «Tanztee» einluden. Ein bestimmter Musikstil wurde nicht angepriesen; eine Tanzbar versprach, die Musikwünsche der Gäste zu berücksichtigen, eine andere «Discothek» bot «unterhaltsames Programm» und «Musik für jeden Geschmack» an.[xii]

Interieur der Diskothek «Fuchsbau» in Kirchzarten, Breisgau-Hochschwarzwald (Werbebild aus einer Broschüre zum Landkreis, etwa 1978)

In den 1980ern differenzierte sich die Diskothekenlandschaft aus – damit verbunden war eine gestalterische, soziale und musikalische Modernisierung. Dies gilt auch für den genannten Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald. Ein Artikel der in Freiburg (Breisgau) erscheinenden Badischen Zeitung deutete die Bandbreite schon in der Überschrift an: «Zwischen Tanzstunden-Atmosphäre und ‹Night fever›».[xiii] Dort wurde über die ländlichen Betriebe eher ironisch-distanziert berichtet. So heisst es beispielsweise, im rustikal eingerichteten Gutach Landhaus (Titisee-Neustadt) nehme sich die moderne Videoanlage «zwischen Holzeinrichtung, Trockenblumen und braunen Vorhängen» seltsam aus.

In einem anderen Lokal, dem bereits genannten Heuboden, sei die Ausstattung gleichfalls rustikal, es gebe dort hölzerne Deckenbalken, an alten Wagenrädern seien Lampen aufgehängt und landwirtschaftliche Utensilien schmückten die Wände. Das Publikum sei hier deutlich älter als in anderen Betrieben, es werde dort Standard getanzt, der Betreiber lege Wert auf gepflegte Erscheinung: Ein Krawattenzwang bestehe zwar nicht mehr, aber «Jeans, Turnschuhe oder weit ausgeschnittene T-Shirts» seien verpönt. Dafür gab es an einem Wochentag Tanz mit Damenwahl.

Schaut man sich die Live-Programme von ländlichen Diskotheken an, ist gleichfalls auffällig, dass ein breites Publikum angesprochen werden sollte: das gilt für das Geschlecht wie für das Alter, für den Musikgeschmack ebenso wie für die erwarteten Erlebnisqualitäten. Die Live-Events beschränkten sich dabei nicht nur auf Musikvorführungen/Konzerte, sondern es wurden auch andere Attraktionen wie Hypnose-Shows oder Frauen-Catchen angeboten.

Zu Gast im «Engel» in Königsfeld-Neuhausen (Schwarzwald-Baar-Kreis): Wolfgang Petry und Gunter Gabriel (Autogrammkarten und Auflistung der Gäste des Wirtes Karl Hummel)

Die von Nathaus angeführte Zusammenarbeit zwischen den Diskotheken und der Schallplattenindustrie gab es auch im Schwarzwald, etwa mit dem niederländischen Label Philips: In dem kleinen Ort Königsfeld-Neuhausen (Schwarzwald-Baar-Kreis) bot die dortige Gaststätte Zum Engel im Jahr 1980 eine «Philips-Disco-Party» an. Vier Live-Interpreten (leider wissen wir nicht, welche) wurden präsentiert, daneben weitere Unterhaltungsangebote, nämlich eine «Philips-Hitparade», ein «Philips-Wörter-Puzzle» und die «Wahl der Miss Philips». Im gleichen Gasthaus trat nicht nur die Spider Murphy Gang live auf, sondern auch die Schlagersänger Gunter Gabriel (Hit «Hey Boss, ich brauch mehr Geld», 1974) und Wolfgang Petry (Hit «Wahnsinn», 1983). Solche Tanzlokale waren stark mit dem dörflichen Leben verbunden: Neben dem Diskobetrieb und den Live-Veranstaltungen fanden im Engel auch die Feste und Feiern der Vereine statt, etwa zur Fastnacht.[xiv]

In Todtmoos (Landkreis Waldshut, an den Schweizer Kanton Aargau angrenzend) waren in der 1991 eröffneten Schwarzwaldspitze neben Diskomusik immer auch andere Genres präsent. Der Betreiber erinnert sich daran, dass man sich Künstler wie Peter Maffay nicht habe leisten können, «aber im Mittelfeld, wie Jürgen Drews, die Schiene, die war immer da».[xv] Schlager habe bei der Musikauswahl immer eine Rolle gespielt, Techno hingegen sei dort nicht nachgefragt gewesen. Manchmal habe es früher sogar Live-Abende mit der damals populären volkstümlichen Musik gegeben. Aber selbstverständlich war die Programmauswahl immer differenziert, um möglichst unterschiedliche Zielgruppen anzusprechen.

Schlagerdiskos zwischen 1990 und heute

In den 1990er Jahren gab es auch ausgesprochene Schlagerdiskotheken, die sich auf dieses Genre und seine Fans spezialisiert hatten. Ähnlich wie ländliche Diskotheken werden diese in der Forschung weitgehend ignoriert – obwohl (oder weil?) sie ökonomisch erfolgreich waren und breite Publikums­schichten ansprechen konnten. In einem Diskothekenführer aus dem Jahr 1999 wurden sie als «die stillen Riesen» bezeichnet. Hier träfen sich die älteren Jahrgänge, die nicht hip sein wollten, deren Rezeptionshaltung gegenüber dem Schlager weitgehend ironiefrei sei. Die Stars der Szene, so der Diskothekenführer damals, hießen Andy Borg (1982 Hit «Die berühmten drei Worte») oder Kristina Bach (1990 Hit «Erst ein Cappuccino»).[xvi]

Erinnerung an die ehemalige Diskothek «Waldpeter» in Schönwald (Schwarzwald-Baar-Kreis), Material zusammengestellt von dem ehemaligen Diskjockey Dirk Pfersdorf, im Vordergrund eine Speisekarte im Format einer Vinyl-LP

Die Schlagerrenaissance der letzten Jahre – nicht zuletzt durch den anhaltenden Erfolg von Helene Fischer − macht das Genre wieder für den Dance Floor der Gegenwart interessant: So organisierte das bereits genannte Tanzlokal Schwarzwaldspitze im Jahr 2019 «Schlagertanznächte», im Juni trat dabei das aus Südschwarzwald stammende Schlager-Trio Traumfänger auf.[xvii] Offensichtlich ist die Liaison zwischen Diskotheken- und Schlagerkultur immer noch zukunftsfähig und das Genre findet in den Tanzlokalen weiter seine Anhänger:innen.

Michael Fischer

Michael Fischer ist Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Populäre Kultur und Musik in Freiburg im Breisgau. Er war nach seinem Studium der Theologie und der Geschichte am Deutschen Volksliedarchiv in Freiburg tätig, das sich seit dem Jahr 2014 als universitäres Zentrum den musikalischen Alltagskulturen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart zuwendet. Fischer ist zugleich Honorarprofessor an der Hochschule für Musik Freiburg für den Bereich Geschichte und Theorie populärer Musik.
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