
Soziale Teilhabe aus der Sicht von Menschen mit Demenz
Was verstehen Menschen mit Demenz unter Sozialer Teilhabe? Valerie Keller hat mit betroffenen Personen gesprochen und zeigt auf, wie Teilhabe im Leben mit Demenz ermöglicht werden kann.
Wenn im Alltag, in öffentlichen Medien oder Fachdebatten über Demenz gesprochen wird, geht es nicht mehr nur um medizinische und pflegerische Hilfsmittel. Ziel ist nicht mehr nur die Entlastung von Angehörigen und die Verzögerung von Krankheitsverläufen, sondern auch das Herstellen von demenzfreundlichen Gemeinden. Die Rede ist von einem Miteinander von Menschen mit und ohne Demenz, von sozialer Teilhabe und gesellschaftlicher Mitwirkung demenzbetroffener Personen.
In öffentlichen Demenzdebatten scheinen sich zwar immer wieder Vorstellungen einzuschleichen, die dem entgegenlaufen: Etwa die Idee einer Abschottung von Menschen mit Demenz zum Schutz vor vielerlei Gefahren der Aussenwelt, oder die Vorstellung, Training und Therapie seien die zentralen Aufgaben im Leben mit Demenz. Doch immer mehr zeigen Einzelstudien, konkrete Projekte und Initiativen von betroffenen Personen, dass soziale Teilhabe bei Demenz keine Unmöglichkeit ist.
Vor diesem Hintergrund sind heutige Gesellschaften herausgefordert, Formen der Unterstützung zu bilden, die soziale Teilhabe im Leben mit Demenz ermöglichen können. Die Frage, wie eine solche Unterstützung genau aussehen mag und welche Möglichkeiten der sozialen Teilhabe sich im Leben mit Demenz öffnen lassen, gilt es nicht nur aus der Perspektive von Menschen ohne Demenz zu beantworten. Ganz zentral scheint es hier, herauszufinden, welche Formen sozialer Teilhabe für Menschen mit Demenz von Bedeutung sind. Ich habe also mit Demenzbetroffenen gesprochen.
Über vier verschiedene Selbsthilfe- und Selbstvertretungsgruppen von Menschen mit Demenz in der Schweiz und Österreich habe ich interessierte Gesprächspartner*innen gefunden, die mir über ihr Leben mit Demenz erzählten. Ich durfte an 24 Gruppensitzungen teilnehmen, sie protokollieren und 17 zusätzliche Interviews mit demenzbetroffenen Personen durchführen. Ausgewertet habe ich die Daten im Rahmen des Forschungsprojekts Selbstsorge bei Demenz: Im Horizont von Spiritual Care und Empirischer Kulturwissenschaft, das von 2018 bis 2022 an am ISEK, Universität Zürich durchgeführt wurde.
Was also verstehen Menschen mit Demenz unter sozialer Teilhabe?
Aus Gesprächen mit Demenzbetroffenen lassen sich drei zentrale Bereiche ableiten, in denen sie sich aktiv um soziale Teilhabe bemühen: Erstens geht es um die eigene Person als Konstrukt einer Gemeinschaft, konkret um die gemeinsame Herstellung eines Selbstbilds mit Demenz. Zweitens geht es um eine stimmige Eingebundenheit in persönliche Beziehungen. Und drittens stehen Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen im Fokus.

Die eigene Person als Konstrukt einer Gemeinschaft
Als Kulturwissenschaftlerin gehe ich davon aus, dass die Vorstellung von sich selbst nicht einfach selbst erfunden oder ursprünglich gewachsen ist, sondern dass sie sich im sozialen Miteinander mit anderen Menschen herausbildet. Ein solches Selbstbild ist geprägt von Merkmalen, die über eine längere Zeit hinweg immer wieder von sich und anderen bestätigt wurden, und nimmt eine stabilisierende Funktion ein: Ich weiss wer ich bin, denn die anderen bestätigen meinen Selbstentwurf.
Im Leben mit Demenz kann diese Stabilität ins Wanken kommen – besonders dann, wenn Fähigkeiten nachlassen, die für die betroffene Person selbst identitätsstiftend waren. Einem Reisefreak ist es vielleicht plötzlich nicht mehr möglich, sich am Urlaubsziel zu orientieren oder einer Logistikfachfrau mit Bestnoten bereitet es Schwierigkeiten, ihre E-Mails zwischen beantwortet und nicht beantwortet zu sortieren. Demenziell bedingte Veränderungen können also dazu führen, dass die betroffene Person sich selbst nicht mehr wie gewohnt wahrnimmt und/oder dies Personen aus dem Umfeld nicht mehr tun. Ein über Jahre hinweg entwickeltes Selbstbild kann nicht mehr wie gewohnt entworfen und von anderen nicht mehr wie gewohnt gespiegelt werden. Dies zwingt die Person mit Demenz dazu, sich selbst in einer neuen Weise zu verstehen: Ich weiss plötzlich nicht mehr, wer ich bin, denn das, was ich über mich zu wissen glaubte, verschwindet.
Vor dem Hintergrund demenzieller Entwicklungen sind betroffene Personen also aufgefordert, ihr Selbstbild zu aktualisieren. Dafür sind sie auf ein Umfeld angewiesen, das ihnen nicht nur Krankheit und Verlust früherer Persönlichkeitsstrukturen spiegelt, sondern ihnen dabei hilft, ein positives Selbstbild mit Demenz zu entwickeln. Es geht darum, neue Selbstentwürfe zu unterstützen und diese nicht lediglich als Symptome einer Krankheit abzutun. Eine Interviewpartnerin erzählt die Suche nach neuen Selbstentwürfen als eine Geschichte der Überwindung von Barrieren, die sie sich in ihrem Leben selbst auferlegt hat:
«Ich denke, jede Einschränkung ist eine Einengung und das können wir bei der Krankheit nicht gebrauchen. Ich kann nur mich öffnen, weiten und schauen, was wartet alles noch, was kann ich tun, wofür kann ich mich interessieren? […] Ausweiten tu ich mich ganz stark in Musik. Ich komme aus richtig hartem Rock, das mag ich. Ich hab’ nur bisschen Folk oder Reggae dazu genommen, war aber der Meinung, dass das reicht. Das ist ja auch genug, mit 4, 5 verschiedenen Richtungen kommt man nämlich gut durch. […] Heute findest du mich erstaunlicherweise bei Klavierkonzerten, du findest mich im Konzerthaus, in der Oper. Es ist ein Gebiet, das wächst. Und ich denke, das muss auch im Kopf passiert sein, dass diese Weite stattfindet, oder dass ich sie mir erlaube» (Angela Pototschnigg, Interview vom 04.09.2018 in Wien).
Gelingende soziale Teilhabe im Leben mit Demenz bedeutet erstens, Akzeptanz und Unterstützung in der Ausweitung und Veränderung der eigenen Person zu erhalten. Gelingende Teilhabe zeigt sich darin, im sozialen Miteinander ein Selbstbild herauszubilden, das durch den Verlust an Fähigkeiten nicht an Qualität verliert, sondern durch neue Aspekte ergänzt und weiterhin positiv wahrgenommen werden kann.
Soziale Teilhabe als Eingebundenheit in Beziehungen
Im Leben mit Demenz können sich Beziehungen unter anderem dadurch verändern, dass neue Abhängigkeiten entstehen: Gewisse Tätigkeiten gehen nicht mehr so gut wie früher und müssen durch andere unterstützt oder gar von ihnen übernommen werden. Dies kann dazu führen, dass Beziehungen, die lange von einer Ausgeglichenheit in gegenseitigem Geben und Nehmen geprägt waren, plötzlich in eine Schieflage geraten, die ein Machtgefüge impliziert: Die eine Person hat, was die andere braucht, aber umgekehrt nicht. Der Verlust der gleichen Augenhöhe in bedeutsamen Beziehungen ist deshalb schmerzliches Thema in vielen Selbsthilfegruppen. Trotzdem, so macht ein Interviewpartner deutlich, bringen Menschen mit Demenz durchaus Verständnis für diese Situation auf:
«Ich leide sehr unter dem und ich meine, meine Familie, obwohl sie es ja eigentlich wissen oder, die nerven sich einfach, oder. Vielfach. Es ist ja auch verständlich! Unter dem leide ich dann auch, das ist klar.» (Ulrich Feller, Interview vom 23.01.2019 in Zürich)
Herr Feller versteht sich als Belastung für diejenigen Personen, auf deren Unterstützung er angewiesen ist. Auch geben ihm letztere zu spüren, dass er damit richtig liege. Diese Situation bildet ein Machtgefälle, das seine Möglichkeiten zur Mitgestaltung der Beziehungen reduziert: Verletzende Umgangsweisen werden akzeptiert, und die eigenen Bedürfnisse zurückgehalten.
Gelingende Teilhabe an Beziehungen bedingt aber die Möglichkeit zur Mitgestaltung derer. Dies impliziert auch ein Mitspracherecht bei der Entwicklung von Hilfestellungen. Dabei gilt es herauszufinden, welche Lebensbereiche für die Person mit Demenz zentral sind. Was genau möchte sie weiterhin selbstständig entscheiden und durchführen können? Welche Unterstützung wird demnach benötigt, um dieses Ziel zu erreichen? Und wo muss die Unterstützung aufhören, damit die Selbstständigkeit gewahrt werden kann?
Gelingende Teilhabe bedeutet aber auch, dass nicht nur angenommen werden muss, sondern selber auch etwas in die Beziehung eingebracht werden darf. Es geht also auch darum, dass die Person mit Demenz immer wieder aus der Position der Hilfeempfängerin heraustreten kann. Wenn die Unterstützung leistende Person Gegengaben annimmt, kann dies dazu beitragen, ein Ungleichgewicht in der Beziehung auszugleichen. Dabei müssen Gegengaben keine Geschenke materieller oder praktischer Natur zu sein. Auch ein bewusstes Wertschätzen von Herzlichkeit kann unter Umständen viel bewirken.
Soziale Teilhabe im Leben mit Demenz bedeutet zweitens ein Mitsprache- und Mitgaberecht in Beziehungen.

Gruppen-Zugehörigkeiten als sinnstiftendes Element
Die Entwicklung einer Demenz führt nicht selten dazu, dass Tätigkeiten aufgegeben werden müssen, die den Zugang zu sozialen Gruppen ermöglicht hatten. Zugehörigkeiten und daraus entwickelte Wir-Identitäten sind jedoch zentraler Bestandteil sozialer Teilhabe, wie sie von Menschen mit Demenz erwünscht wird. Eine Gesprächspartnerin mit Demenz erzählt mir davon, dass sie Oma geworden sei, dass das Enkelkinderhüten aber nicht funktioniere und sie merke, dass das eigentlich von ihr erwartet würde, dass das eigentlich zur Rolle der Oma dazugehörte. Eine richtige Oma sei sie demnach nicht. Oder ein Seelsorger mit Demenz, der für alle ein offenes Ohr gehabt habe, erzählt mir, dass ihm nicht mehr so viel erzählt werde – weil er immer mal wieder vergesse, was ihm bereits erzählt worden sei und er dann nochmals dasselbe frage. Das schmerze ihn sehr. Die Zugehörigkeit zur Gruppe der Seelsorger wird ihm folglich mehr und mehr dadurch abgesprochen, dass ihm das Zuhören verwehrt wird.
Grund zum Ausschluss aus sozialen Gruppen seien aber nicht nur verändernde Fähigkeiten. Manchmal gehe auch einfach komplett vergessen, dass eine soziale Mitwirkung überhaupt ein Bedürfnis von Menschen mit Demenz sein könnte. Man traue einem Alzheimerpatienten einfach per se nichts mehr zu, erklärt Frau Schwager im Interview (Rita Schwager, Interview vom 17.08.18 in Immensee). Die Idee, Menschen mit Demenz könnten und wollten nichts mehr zu einer Gemeinschaft beitragen, nehmen Betroffene als starke Stigmatisierung wahr. Exklusionserfahrungen gehen bisweilen so weit, dass Menschen mit Demenz das Menschsein abgesprochen wird. Ausdruck findet diese Haltung unter anderem in der Metapher der «leeren Hülle», in Beschreibungen von «leeren Blicken», oder dem Umstand, dass über anwesende Demenzbetroffene mitunter in dritter Person gesprochen wird.
Teilhabe im Sinne einer Zugehörigkeit setzt jedoch voraus, dass Demenzbetroffene primär einmal als Menschen angesehen werden, die Qualitäten eines Menschen mitbringen und diese in eine Gemeinschaft einbringen können. Eine Teilnehmerin der Gesprächsgruppe für jüngere Menschen mit Demenz erklärt mir, wie dies aussehen kann: Seit kurzem sei sie Teil eines Fahrtendiensts, der Essen nach Hause liefert. Verantwortlich sei sie jeweils für den Part, in dem es darum gehe zu klingeln, die Essensbox zu übergeben und einen kleinen Schwatz abzuhalten. So könne sie der belieferten Person Wertschätzung entgegenbringen und entlaste die Person am Steuer, die dann jeweils eine kurze Pause habe (Beata Thüler, Gesprächsgruppe vom 11.04.19 in Luzern).
Soziale Teilhabe bedeutet im Leben mit Demenz also drittens, Zugang zu Strukturen zu erhalten, in die man sich sinnvoll einbringen und in denen ein Wir-Gefühl entwickelt werden kann: Im Beispiel von Frau Thüler wäre diese Zugehörigkeit ein «Wir von der Essensauslieferung.»
