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«Sagen aus den Alpen» im Landesmuseum Zürich

Wie kann man mündliche Kultur ausstellen? Und wie lässt sich damit etwas von den Vorstellungs- und Erzählwelten der Vergangenheit vermitteln – womöglich noch mit Bezügen zum Heute? Diesen Fragen hat sich das Schweizerische Nationalmuseum mit der Ausstellung «Sagen aus den Alpen» gestellt. Die Antwort liegt in einer umsichtigen Konzeption und einer sowohl für sich sprechenden als auch vermittlungsfreundlichen Präsentation – interessant und solide zwar, aber zugleich manche im Thema liegende Chance zu wenig nützend.

«Neulich im Museum» ist eine Kolumne von «das bulletin. Für Alltag und Populäres». Sie will den kulturwissenschaftlichen Blick auf die Institution Museum und das populäre Medium Ausstellung schärfen und dem nach wie vor vernachlässigten Genre der Ausstellungskritik einen Platz geben. Dazu erscheinen in loser Folge knappe Berichte von Besuchen in kleinen und grossen Museen des In- und Auslands, sichtbaren und weniger sichtbaren, solchen mit deutlicherem Bezug zur Kulturwissenschaft des Alltags und auch solchen, bei denen sich dieser nicht auf den ersten Blick erkennen lässt.

«Sagen aus den Alpen» klingt für heutige Ohren wohl mehr nach älteren Buchtiteln als nach einem Ausstellungsthema in einem runderneuerten Landesmuseum mit dem zeitgemässen Selbstverständnis eines niederschwellig und inklusiv agierenden Kulturhauses. Aber das Thema ist weder langweilig noch muss es zwangsläufig in einer «papierlastigen» Präsentation enden. Dass es sich im Gegenteil auf ansprechende Art darstellen lässt und zudem wichtige Kapitel von Kultur und Geschichte aufschlagen hilft, lässt sich seit einigen Wochen in den vor wenigen Jahren vorbildlich sanierten historischen Ausstellungsräumen des Hauses am Zürcher Hauptbahnhof erfahren. In erfrischender Grafik angekündigt und modern gestaltet, lädt die gut überschaubare Ausstellung zu einer vielschichtigen Auseinandersetzung mit der Sagenüberlieferung der (Deutsch-)Schweizer Alpen ein.

Zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit – in starken Bildern

Die Kuratorinnen Pia Schubiger und Daniela Schwab haben sich gemeinsam mit dem szenografischen Team (Martina Nievergelt und Ralph Nicotera) einiges einfallen lassen, um das Thema des Erzählens (und Vorstellens!) kulturhistorisch fundiert zu situieren und vor allem zugänglich zur Anschauung bringen zu können. Ein wichtiges Prinzip liegt dabei in der Beschränkung und Konzentration. So verliert sich die Ausstellung nicht im Material, wird konkret und exemplarisch, allerdings mitunter auch um den Preis geringer Differenzierung oder der Beschränkung auf prominente Beispiele. Aber dies ist weitgehend der Logik des Mediums Ausstellung geschuldet. Schade jedoch, dass es weder eine Begleitpublikation noch die Möglichkeit gibt, vertiefendes analoges Material zu sehen.

Viel zu sehen, viel zu hören: Entrée der mystisch gestalteten Ausstellungsräume von «Sagen in der Schweiz». Szenografie Martina Nievergelt und Ralph Nicotera. (Foto: Bernhard Tschofen)

Die Ausstellung folgt lose einer chronologischen und vom Allgemeinen zum Besonderen vorgehenden Ordnung. Sie begrüsst das Publikum mit der Installation eines mystisch hell erscheinenden Baums in einem dunklen Raum. Das ist nicht nur der atmosphärischen Inszenierung geschuldet, sondern wohl auch konservatorischen Gründen, denn die gleich eingangs aufgeschlagene Geschichte «Sagen erzählen und sammeln» wartet unter anderem mit Zimelien aus empfindlichem Papier auf.

Hier wird ein weiter Bogen geschlagen: von den frühen Notizen der Schweizer Humanisten über die Deutschen Sagen der Brüder Grimm (die 40 aus gedruckten Schweizer Quellen übernommene Erzählungen enthielt) bis zur regelrecht enzyklopädischen Rätoromanischen Chrestomatie Caspar Decurtins (1855–1916) und der beachtlichen Mythologischen Landeskunde von Graubünden des Arnold Büchli (1885–1970). An Büchlis sensiblen Notizen aus der Feldforschung lassen sich die Prozesse (und Probleme) der Verschriftlichung exemplarisch erkennen. Eindrucksvoll, was er über «Il Totevolk» zu Papier gebracht hat.

Sagenhafte Nationalgeschichte: Blick auf Ausschnitte aus der Präsentation des Tellenmythos und seiner politischen Wirkmacht. (Foto: Bernhard Tschofen)

«Sagen aus den Alpen» ist aber keine philologische Ausstellung, und das ist auch gut so. Sie bedient sich einer vereinfachten Systematik (dämonische und historische Sagen), sie verlässt sich auf knappe, aber inhaltlich stimmige und gut lesbare Texte und sie öffnet den Besucher:innen den Raum für zeitgenössische Interpretationen durch grossformatige Spraybilder bekannter Sagenmotive, die der Künstler Hans Jörg Leu seit 2010 auf Stoffbahnen realisiert hat. Daneben ist sie medial eher zurückhaltend, an Hörstationen lassen sich immerhin ein paar Dutzend bekannte und weniger bekannte Sagen nach Regionen geordnet akustisch erkunden.

Dafür kommt Bildern eine wichtige Rolle zu – etwa gleich in den beiden grundlegenden thematischen Segmenten «Sagen erfinden Geschichte» und «Sagenhafte Alpenlandschaft». Am Beispiel der Tellgeschichte wird im (auch ikonografisch interessanten) Bogen von Hans Schriber und der ersten Illustration von 1507 über die frühen Zweifel (Ein Dänisches Mährgen) und Auseinandersetzungen bis zum legendären Kampf «gegen den Atomvogt» erkennbar, wie Geschichten und Geschichte ineinanderwirken und zur wandelbaren politischen Ressource werden. An der berühmten Sage von der Teufelsbrücke wird exemplarisch gezeigt, wie physische Orte nach Sagen verlangen und diese wiederum den Ort als Topos hervorbringen – nicht zuletzt vermittelt über eine reiche imagerie populaire, die bis zur Ansichtskarte und zur gedruckten Tapete aus dem Biedermeier reicht.

Das sind wohl für einen Grossteil des Publikums ebenso interessante Learnings wie die Begegnungen mit den theologischen Einflüssen des Hexenglaubens (der Graubündner Katechismus warnt noch Mitte des 18. Jahrhunderts vor der Hexerei) und den bis ins 19. und mitunter 20. Jahrhundert verbreiteten Objekten aus der populären Religiosität, die vor Schadenzauber schützen sollten. Auch die Ambivalenz, mit der noch die frühneuzeitlichen Gelehrten wie Johann Jakob Scheuchzer der Existenz von Drachenwesen nachgingen, unterstreicht die Gängigkeit der tradierten Vorstellungen.

Kaum Fragen nach der Aktualität der Sage

Der Parcours durch die Ausstellung vermittelt vor allem auch, wie in den vergangenen Jahrhunderten Tradierung funktioniert hat – und dass diese oftmals bei der Kreierung ansetzt. Auch da sind wieder prominente Beispiele unterschiedlicher Epochen präsent: Abraham a Sancta Claras folgenreiches und für die Beziehung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit aufschlussreiches Heilsames GemischGemasch (1704) und die aus dem Studium überlieferter Stoffe schöpfende, deutlich pädagogisch motivierte Novelle Die Schwarze Spinne von Jeremias Gotthelf (1842). Sie zeigen das intermediale Spektrum an, in dem sich die Gattung eigentlich seit jeher bewegt und das mit der Ausbreitung populärer Lesestoffe nochmals breiter und vielseitiger geworden ist.

Sachen, Bilder, Medien: Die Kuratorinnen Pia Schubiger und Daniela Schwab, beraten durch Peter Egloff, geben einen Einblick in die Sage als «kommunikatives Gemisch von Mündlichkeit und Schriftlichkeit». (Foto: Bernhard Tschofen)

Auf der Objektebene noch eindrucksvoller bleibt aber die berührende Ästhetik der populärkulturellen Materialisierungen von Motiven und Figuren wie dem «Toggeli» oder einem 1978 vom Rätischen Museum erworbenen «Sennentuntschi» aus dem Calancatal. Das «Sennentuntschi» fungiert mit dem Pygmalion-Stoff zugleich als Exempel, dass «Sagenmotive wandern», nicht nur zwischen den Modi und Gattungen, sondern auch in Raum und Zeit. Dass sich darüber aber noch weit mehr erzählen liesse, gilt gerade auch für die bild- und materialreiche Behandlung der Sage um die «Bluemlisalp». Mit dieser liesse sich nicht nur an stoffliche Parallelen anknüpfen, sondern auch an aktuelle Erfahrungen in Bezug auf Klima und Umwelt oder an die Vermittlung von Werten und Normen im Umgang mit natürlichen Ressourcen und überantworteten Gemeingütern.

Sodom und Gomorra in den Alpen, schon seit mehr als zweihundert Jahren auch für den touristischen Gebrauch aufbereitet: Ansichten und Adaptionen der Sage von der Blüemlisalp. (Foto: Bernhard Tschofen)

Überhaupt bleiben die erzählenden Menschen neben den Sammlern und Literaten – freilich auch quellenbedingt – etwas konturlos. Dabei hätte hier gerade die berühmte Sammlung des Altdorfer Spitalpfarrers Josef Müller (1870–1929), die leider nur in einem flächig dekorativen Faksimile einer Aufzeichnung «Einen Tunsch […]» präsent ist, reichlich Material und Möglichkeiten geboten. Immerhin begegnet man dann den Menschen noch in einem als merkwürdig stimmungsvolle Stube eingerichteten Videoraum. An Ausschnitten aus dem Kinofilm Arme Seelen (Edwin Beeler, 2011) lässt sich etwas von der noch gar nicht so lange zurückliegenden Präsenz der Erzählstoffe und Vorstellungswelten im Alltag der alpinen Bevölkerung erahnen. Uralte Sagenstoffe werden da erzählt, als wären sie gestern erlebt worden – ein wichtiges Prinzip, das hier auch ohne weitere Erklärungen erkennbar wird.

Sagen und unheimliche Begegnungen als Teil einer selbstverständlichen Lebenswelt: Blick in den Videoraum am Ende der Ausstellung. (Foto: Bernhard Tschofen)

Noch einmal begegnet man diesem Prinzip ganz am Ende des Rundgangs in einer Medienstation, die eigentlich dem Anhören und Aufnehmen von «Urban Legends» gewidmet sein sollte. Sie zeigt vor allem, dass man es auch heute beim Erzählen mit den Genres nicht so genau nimmt: «Globi und die Monster», von einem kleinen Jungen erzählt, und der «zombi spielplatz» stehen da ganz selbstverständlich neben zeitgenössischen Nacherzählungen von bekannten Schweizer Sagen durch ältere Besucher:innen.

«Sagen aus den Alpen» bis 23. April 2023 im Landesmuseum Zürich, Museumstrasse 2, 8001 Zürich.

Die für das Forum Schweizer Geschichte Schwyz erarbeitete und dort im vergangenen Jahr als «Sagenhafte Alpen» gezeigte Ausstellung wird ab Mai 2023 in adaptierter Form vom Luzern Museum (neu für: Historisches Museum und Natur-Museum) übernommen.

Bernhard Tschofen

Bernhard Tschofen ist Professor für Populäre Kulturen an der Universität Zürich. Er war nach dem Studium der Empirischen Kulturwissenschaft und Kunstgeschichte in Innsbruck und Tübingen unter anderem im Museumswesen tätig, dann an der Universität Wien. Von 2004 bis 2013 hatte er eine Professur an der Universität Tübingen inne. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Berührungsflächen von Alltags- und Wissenskulturen sowie raumkulturelle Fragen in Geschichte und Gegenwart. In der Kolumne «Neulich im Museum» berichtet Bernhard Tschofen für das bulletin von Besuchen in kleinen und grossen Museen des In- und Auslands und reflektiert das populäre Medium Ausstellung.
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