Policing des Anscheins: Polizei und die «Querdenken»-Proteste
Mit Beginn der Schutzmassnahmen gegen die Covid-19-Pandemie tauchten auch die ersten Proteste gegen diese Massnahmen auf. Vor allem die «Querdenken»-Demonstrationen in Deutschland zeichnen sich dabei durch eine uneindeutige Heterogenität aus, die sich für den polizeilichen Umgang mit diesen Protesten als problematisch herausstellte.[i]
Im August 2020 stürmte eine Gruppe aus Rechtsextremen, Reichsbürger:innen und Corona-Leugner:innen im Rahmen einer «Querdenken»-Demonstration gegen die deutsche Corona-Politik die Treppe des Berliner Reichstag. Aufgehalten wurde die Gruppe von nur einer Handvoll Polizisten, die sich vor den Türen des Haupteingangs am Reichstag befanden und die Protestierenden zurückwiesen. Bereits im Vorfeld haben Demonstrierende vor der russischen Botschaft Steine und Flaschen auf die Polizei geworfen und eine Gefangenenbefreiung versucht.
Wenige Monate später brachen mehrere Teilnehmer:innen einer solchen Demonstration durch eine Absperrung der Polizei, andere legten sich unter Einsatzfahrzeuge oder kesselten und bedrängten Polizist:innen. Im Kontext der daraufhin laut werdenden Kritik am Einsatz der Berliner Polizei, kommunizierte diese Schwierigkeiten im Umgang mit diesen Protesten. «Die Anti-Corona-Demos sind einsatztaktisch schwer zu händeln», erklärte beispielsweise Stephan Kelm, ein Sprecher der Gewerkschaft der Polizei. Und auch der Hamburger Polizeiforscher Rafael Behr argumentiert, dass diese Demonstrationen für die Polizei eine «neue Herausforderung» darstellen, «mit der sie noch nicht umzugehen weiß», denn «im Gegensatz zu linken Demonstrationen oder Fußballspielen fehlt die Erfahrung mit diesem Spektrum, das ja tatsächlich sehr breit ist.»
Diese Aussagen mögen auf den ersten Blick irritieren, sind doch die Protestpraktiken, wie das Demonstrieren auf öffentlichen Strassen, die Durchführung von Sitzblockaden, gemeinsames Singen oder auch kollektive Sprechchöre durchaus vergleichbar mit denen anderer Demonstrationen. Und selbst Durchbrüche von Polizeisperren oder ungenehmigte Protestgänge durch die Innenstadt, sind keine derart aussergewöhnliche Praktiken, dass Polizist:innen mit Erfahrung in Protest-Policing diese nicht zu händeln wüssten.
Der Kern der Problematik im Umgang mit diesen Protesten liegt also weniger an den Formen des Protests, sondern vielmehr in den Schwierigkeiten eines polizeilichen Umgangs mit dem, von Behr so bezeichneten, «Spektrum» der Protestierenden. Dabei sind es vor allem die polizeilichen Figurationen von (Un-)Gefährlichkeit, innerhalb derer auch Aggressivität und Gewalt sinnhaft gedeutet werden und das polizeiliche Handeln strukturieren.
Polizeiliche Lageeinschätzungen
Ob Polizist:innen ihre Handlungen als verhältnismässig einschätzen, ist von den Gefährlichkeitszuschreibungen der Personen(gruppen), mit denen sie konfrontiert sind, abhängig. Diese basieren auf den sogenannten Lageeinschätzungen, die ein zentrales Erkenntnisinstrument der Polizei bilden.
Bei der sogenannten Lage handelt es sich um einen zentralen, fetischisierten Begriff in der Polizei, der das polizeiliche Arbeiten zeitlich und räumlich strukturiert und zwar stets entlang der Frage, welche sozialen Tätigkeiten in der Gesellschaft, wann, wie lang und in welcher Weise für die Polizei interessant werden und zu polizeilichem Handeln führen. Die Lage markiert also den polizeilichen Zuständigkeitsbereich, der beginnt, wenn etwas auftaucht «that-ought-not-to-be-happening-and-about-which-someone-had-better-do-something-now.»[ii]
In diesem Sinne ist die Lage ein «Ordnungskonstrukt, das in unterschiedlichen polizeilichen Aussagen Sinnbezüge herstellt»[iii] und durch das polizeiexterne Situationen als polizeirelevante Ereignisse qualifiziert werden. Damit umreisst ein Lagebericht nicht nur ein Tätigkeitsfeld, wie dies beispielsweise eine Versammlung ist, sondern impliziert zugleich auch einen Handlungsbedarf - nämlich eine bestimmte Art und Weise des polizeilichen Umgangs, wie er aufgrund der Lageeinschätzung geboten scheint.[iv]
Diese Einschätzung ist also grundlegend dafür, wie Polizei mit Protesten umgeht und welche polizeilichen Massnahmen getroffen werden. Zentral dafür sind die potenziellen oder tatsächlichen Gewalthandlungen einzelner Personen(-gruppen) innerhalb einer Versammlung sowie potenzielle Eskalationsbedingungen, wie beispielsweise die räumlichen Gegebenheiten, das Wetter, der Zeitpunkt aber auch die mögliche Unterstützung von Unbeteiligten. Es ist also die (potenzielle) (Un-)Friedlichkeit von Versammlungen, an der sich polizeiliches Handeln orientiert.
Zur Klassifikation von Versammlungen als (un-)friedlich oder (un-)gefährlich greift die deutsche Polizei auf eine vereinfachende, aber im Arbeitsalltag durchaus praktikable farblichen Dreiteilung des sogenannten polizeilichen Gegenübers zurück: Sie unterteilen diese in die friedlich Guten (grün), bei denen aus polizeilicher Sicht kaum mit Gewalt zu rechnen ist, die situativ-sporadisch gewalttätigen Personen (gelb), die sich lediglich von Gewalt mitreissen lassen, sowie eine Minderheit der militanten Bösen (rot), von denen eskalatives und gewaltförmiges Verhalten erwartet wird.[v] Protestakteur:innen werden dabei vor allem aufgrund ihres Aussehens, ihrer Kleidung sowie ihres Sprechens und habituellen Verhaltens entsprechend klassifiziert.
Bunt-grüne Friedlichkeit
Die «Querdenken»-Demonstrationen weisen auf den ersten Blick eine ungewöhnliche «Heterogenität der an den Protesten beteiligten Gruppen» auf, bei denen «von bürgerlichen Grünwähler:innen über kauzige Hippies bis hin zu strammen Neonazis» eine breite Masse an verschiedenen Akteur:innen vertreten ist – in «von Ort zu Ort zu unterschiedlichen Mischungsverhältnissen dieser Gruppen, die kein klares Gesamtbild ergeben».
Gestützt wird der Eindruck der ungewöhnlichen Heterogenität im Protest durch ein «Nebeneinander von sich widersprechenden Symbolen», die «ein zusätzliches Moment der Verwirrung bei der Betrachtung der Querdenker-Proteste» schaffen: Zwischen der schwarz-weiss-roten Reichsflagge finden sich Regenbogenfahnen, Flaggen mit dem Symbol der Friedenstaube wie auch Plakate, die sich auf den Widerstand gegen den Nationalsozialismus beziehen oder die Abschaffung der «Merkel-Diktatur« fordern.[vi] Es ist jene diffuse Heterogenität der Akteur:innen sowie die «vielgestaltige und zum Teil widersprüchliche Verwendung von Symbolen, die gewohnte Bedeutungszuschreibungen in Frage stellt.»
Auch aus Sicht der Polizei handelt es sich bei den «Querdenken»-Demonstrationen um einen heterogenen und im Wortsinne bunten Protest, der für die Polizist:innen in einer engen Verbindung zu Friedlichkeit steht: «Alles friedlich, bunt, lustig» (leitender Beamter, INT-32001). Die Kategorisierung von Personen als «friedliche, bunt gekleidete» Akteur:innen (Beamter, INT-32008) ist eng an eine Figurierung als normale Bürger gekoppelt und bildet eine (farblich differenzierte) Kontrastfolie bspw. zur Figur des Schwarzen Blocks, der als gewalttätig und eskalativ gilt.
Es ist also vor allem die Verortung der Personen als *normale Bürger*, die für die Polizei zu einem Hindernis wird, gewaltförmige Massnahmen anzuwenden.
Im Kontext der «Querdenken»-Demonstrationen haben es Polizist:innen also mit Personengruppen zu tun, die unter der Figur des Normalbürgers subsumiert werden und daher unter die taktisch als grün markierten friedlich Guten fallen, denen Polizist:innen grundsätzlich keine oder nur situativ begrenztes Gewalthandeln zuschreiben. Es sind also das bunte und bürgerliche Aussehen sowie der habituelle Gestus jener Personen, das die Polizist:innen in ihrer Einschätzung von Friedlichkeit und Ungefährlichkeit der Personen zu bestätigen scheint – auch wenn sich dieser Anschein «nicht mit dem autoritären Potenzial und dem Gewaltpotenzial, das von diesen Protesten ausgeht» deckt.
Der Anschein von (Un-)Gefährlichkeit
Es ist vor allem der habituell wie argumentativ von den Protestierenden hergestellte »Anschein von Friedlichkeit», der jene (für Polizei wie die breite Gesellschaft) im Kontext einer Protestfigur des normalen Bürgers verorten lässt. In diesem Kontext werden auch Wut-Ausbrüche, Aggressivitätsgebaren und gewaltförmige Handlungen jener Personen gedeutet – nämlich als Praktiken von normalen Bürgern.
Innerhalb dieser Figuration folgerichtig, werden auch die Wut-Ausbrüche als aussergewöhnlich und situationsgebunden verstanden und eine latente Gefährlichkeit, wie sie bspw. dem Schwarzen Block unterstellt wird, für unwahrscheinlich erklärt. Ein polizeilicher Einsatzleiter macht diese Figurierung im Rahmen einer Sondersitzung des Stuttgarter Gemeinderats am 15.04.2021 zu einem viel diskutierten Einsatz einer dortigen Demonstration von «Querdenken» explizit:
«Wir hatten Tausende von Menschen, wir hatten 30-Jährige, 40-, 50-, 60-Jährige mit Hund, ohne Hund, mit Kindern. Wir hatten tausende Menschen unserer bürgerlichen Mitte, die völlig friedlich dort stehen. Manche nennen das ziviler Ungehorsam. Und dann sollen wir diese Menschen notfalls mit unmittelbarem Zwang, also mit Pfefferspray, mit Schlagstock, mit Wasserwerfern […] von dem Wasengelände runtertreiben. […] Das ist unverhältnismäßig. Krieg‘ ich als Einsatzleiter nicht hin. Und deswegen hab ich mich auch eindeutig dagegen ausgesprochen. Dafür stehe ich als Einsatzleiter nicht zur Verfügung.»
Es ist also vor allem die Verortung der Personen als normale Bürger, die für die Polizei zu einem Hindernis wird, gewaltförmige Massnahmen anzuwenden. Und dies, obwohl von «Querdenken»-Demonstrationen zunehmend ein aggressives Verhalten sowie Übergriffe gegenüber Journalist:innen, Gegendemonstrant:innen aber auch gegen Polizeibeamt:innen aus geht. Dabei zeigte sich u.a. in Berlin, dass gewaltförmiges Handeln nicht nur von einzelnen rechten Akteur:innen innerhalb der Proteste ausging, sondern dass Personen gewalttätig wurden, die optisch und habituell eher den normalen Bürgern zuzuordnen sind.
Obwohl Polizist:innen dieses Gewalthandeln auch als Straftaten erkannt haben, äusserten sie vermehrt Hemmungen in der gewaltförmigen Anwendung polizeilicher Massnahmen, denn es sei für die Polizei schwer «gegen Versammlungen mit polizeilicher Härte vorzugehen, die auch aus Familien und Rentnern» besteht. Gewaltförmige Massnahmen der Polizei gegenüber jenen Personen, die in ihrer Figuration für die sogenannte bürgerliche Mitte stehen, erscheinen den Polizist:innen als Massnahmen gegen Personen, die für sie eigentlich als ein positiv besetzter Referenzpunkt im polizeilichen Handeln gelten.[vii]
Figurationen dienen den Polizist:innen dazu, die Vielfalt ihrer alltäglichen Begegnungen zu ordnen, um diese hinsichtlich ihrer Gefährlichkeit einschätzen zu können und ihr polizeiliches Handeln an die verschiedenen Umstände und Personen(gruppen) anzupassen. In diesem Sinne formieren und strukturieren Figurationen die polizeiliche Wahrnehmung von sozialer Welt und verorten davon ausgehend sich selbst und die anderen innerhalb dieser.[viii]
Im Kontext dieser Figurationen werden auch Aggressivitätsgebaren, Wut-Ausbrüche und Gewalthandlungen gedeutet und entsprechend mit unterschiedlichen polizeilichen Massnahmen adressiert. Aggressivität und Gewalt erhalten daher nicht per se, sondern erst im Kontext ihrer Figurierung eine zugeschriebene (Un-)gefährlichkeit. Und so gibt es für die Polizist:innen eben «eine gewisse Hemmunh, bei [...] einer Frau [im Sommerkleid] aufzutreten, wie bei einem vielleicht vollvermummten Angreifer».[ix]