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«I’ve been living a lie!» Vertrauen in DNA-gestützte Genealogie

Ein Testkit für den Backenschleimhaut-Abstrich bequem nach Hause bestellen, einsenden und innerhalb kurzer Zeit einen Einblick in die weitreichenden Möglichkeiten der DNA-Interpretationen erhalten - heutzutage kein Problem. Seit einigen Jahren boomt das Phänomen der DNA-gestützten Genealogie. Welche Rolle spielt dabei Vertrauen?

Seit einigen Jahren boomt das Phänomen der DNA-gestützten Genealogie, also der genetischen Verwandtschaftsforschung. Schon 2001 sei «erstmals das menschliche Erbgut entschlüsselt» worden. 2022 hiess es dann: Das menschliche Genom sei nun «vollständig entschlüsselt».[1] Mit der Jahrtausendwende begann zugleich die Zeit der Digitalisierung. DNA-gestützte Genealogie wurde für Privatpersonen zugänglich und erschwinglich. Mit wenigen Klicks bestellt, bekommen Interessenten heute gegen eine Gebühr von 80-300 Franken von Anbietern wie Ancestry DNA, Myheritage oder 23andme ein Testkit nach Hause geschickt. Selbstständig können sie damit einen Backenschleimhaut-Abstrich vornehmen und das Kit zurückschicken. Schon kurze Zeit später erhalten sie Einblick in eine Welt weitreichender Möglichkeiten der DNA-Interpretationen. Grundsätzlich kann alles getestet werden, was durch ein Gen oder Gencluster bestimmt ist. Risikofaktoren für bestimmte Krankheiten, Neigungen zu bestimmten Lebensmitteln oder Kuriositäten wie ‹die Abneigung gegen Kaugeräusche›. Für viele ist allerdings die Ahnenforschung bzw. die Ethnizitätseinschätzung von grösstem Interesse. Eine DNA-Sequenz wird dafür analysiert und mit einer Datenbank verglichen. So kommen etwa solche Resultate zustande:

Die persönliche "Ancestry Composition" als Resultat einer DNA-Analyse. Screenshot: 23andme.com https://www.23andme.com/en-int/dna-ancestry/ (Aufruf 08.12.23)

Auch Verwandtschaftskontakte werden – wenn gewünscht – angezeigt.

Die Visualisierung von Verwandtschaftskontakten bei Myheritage.ch. Screenshot: Myheritage.ch https://www.myheritage.ch/dna/abstammungstest?tr_id=m_7cmlhw00ej_lndxlmc725 (Aufruf 8.12.23)

Auf welchen Ebenen spielt das Thema Vertrauen in der DNA-gestützten Genealogie eine Rolle? Um dieser Frage nachzugehen analysiere ich YouTube-Videos, in denen Menschen von ihren Erlebnissen mit DNA-gestützter Genealogie erzählen. Dass ich für diese Studie Online-Videos ausgesucht habe, ist kein Zufall. Denn dass das Phänomen der Direct-To-Consumer Gentests in den 2010-er Jahren eine stetige Bekanntheit erlangt hat (My Heritage wird aktuell auf 104 Millionen Nutzer:innen geschätzt) hängt eng mit YouTube zusammen. Anbieter hatten die Plattform strategisch genutzt in einer Zeit, in der Influencer-Marketing noch nicht so verbreitet und auch noch kein Begriff war. Es finden sich viele Videos, die direkt von Anbietern gesponsert sind und Rabatt-Codes anbieten. In den meisten Videos sind Aussagen wie diese hier zu hören: «I used ancestry.com. I saw a lot of people here on YouTube doing it».

«I used ancestry.com. I saw a lot of people here on YouTube doing it». In vielen Videos sind Aussagen wie diese zu hören. Video: Ari TV: READING MY ANCESTRY DNA RESULTS! https://www.youtube.com/watch?v=3fS8nPo21Dg&t=615s&ab_channel=ARITV

Die Videos gleichen sich inhaltlich wie auch formal: Die Aufnahmen zeigen gewöhnlich einen gleichbleibenden, halbnahen Bildausschnitt. Zu sehen ist eine Person im Available Light (dem sowieso im Raum vorhandenen Licht) in einem natürlich anmutenden, wohnlichen Setting. Der Blick ist direkt in die Kamera gerichtet, meistens sind eine bis zwei Personen im Bild. Manchmal werden grafische Elemente wie Flaggen oder Emojis in die Clips integriert und oft werden Screenshots oder Bewegtbilder der DNA-Webseite gezeigt. Die Videos bestehen meist aus einer Live-Reaktion auf die Ergebnisse, oft enthalten sie einen Rückblick auf das Testverfahren. So erhalten die Zuschauer:innen eine Anleitung dazu, wie solche Tests durchgeführt werden.

Im Folgenden werde ich aufzeigen, wie zentral das Thema Vertrauen in diesem Feld ist. Es geht dabei einerseits um die Praktik des DNA-Testens, andererseits um das Veröffentlichen des Videos darüber im Internet. Methode und Inhalt sind daher untrennbar miteinander verbunden.

Vertrauen in die Wissenschaftlichkeit der Methode

Das Thema DNA-Analyse ist sehr vielschichtig und muss differenziert betrachtet werden. Die Anbieter stellen auf ihren Webseiten Erklärungen von unterschiedlicher Komplexität zur Verfügung. Die meisten erläutern auch, wie sie zu ihren Ethnizitätseinschätzungen kommen, z.B. durch sogenannte Gründerpopulationen: «Gründerpopulationen sind Menschen, deren Vorfahren seit Generationen in derselben Gegend der Welt gelebt haben, sodass ihre DNA für die Region hoch charakteristisch ist. Durch die Tests der Teilnehmer an dem Projekt hat MyHeritage für jede Region Profile erstellt, die ihre einzigartigen DNA-Sequenzen widerspiegeln».[2] Klingt erstmal gut, doch die Definition und Auswahl kann sich von Anbieter zu Anbieter unterscheiden und somit unterschiedliche Resultate hervorrufen. Auch kann die Heterogenität der Populationen unterschätzt werden. Zudem ist den Nutzer:innen oftmals nicht klar, dass sich der wachsende Datensatz auch an den Daten der Nutzenden orientiert und sich somit mit der Zeit Resultate verändern können.

Das Problem ist jedoch: Viele scheinen sich dafür, wie das Wissen entsteht, das sie mit der DNA-Analyse einkaufen, wenig oder gar nicht zu interessieren. Unkenntnis und ein übermässiges Vertrauen in die Technologie führt dann zur überhöhten Einschätzung ihrer Relevanz und zu Fehlinterpretationen der eigenen Resultate. Denn die Daten werden offenbar zur unmittelbaren Arbeit an den eigenen Identitätskonstruktionen verwendet, regen also zur spontanen Neuordnung bisheriger Ich-Entwürfe an. So zum Beispiel von Natalie: Die nationalen Identitäten ihrer Eltern («Thai und Südamerikanisch») scheinen für sie eine sehr grosse Rolle zu spielen und mit Stolz verbunden zu sein: «Also meine Mutter hat mir gesagt, dass sie zu 100% Thailänderin ist und daran nicht zweifelt. (…) Und ich hoffe, dass das stimmt. Also bei Thailänderin bin ich mir zu 100% sicher, dass das auch stimmt.» Natalie ist schockiert, als ihr Ergebnis anzeigt, sie sei zu 26,4 Prozent Thailänderin und Kambodschanerin (Dabei ist es offensichtlich das Kambodschanische, das sie schockiert). Allerdings versteht sie nicht, dass die DNA-Cluster von Kambodscha und Thailand bei ihrem Anbieter nicht differenziert werden. Somit bedeutet ihr Resultat nicht zwingend, dass sie als kambodschanisch gelesene DNA besitzt (‚Kambodschanerin ist‘), sondern bloss, dass die DNA-Cluster als ein und dasselbe gelesen werden. Ihre Herkunft wird somit sowohl verunsichert als auch verdatet: Der Glaube an den naturwissenschaftlichen Nachweis ist jedoch nicht so stark, dass Natalies eigene vorangehende Identitätsarbeit damit überschattet werden würde. Am Ende stellt sie klar: «Ich bleibe immer noch das, was ich bin: keine Schweizerin!»

Vertrauen in die Wahrheit der Resultate

Auffällig ist, dass das genetische Wissen in den Videos oftmals mit Wahrheit und Wirklichkeit assoziiert wird. Typisch sind Titel wie: «Wer bin ich wirklich?“ Oder: «Die endgültige Wahrheit über meine Familie.» Oftmals liest man auch reisserische Titel wie: «I’ve been living a lie!». Diese müssen im Zusammenhang mit der Plattform interpretiert werden, bei der die Videos darauf abzielen, von möglichst vielen Personen gesehen zu werden. Dennoch suggerieren die Titel eine enge Verbindung zwischen Wahrheit und Genetik, welche als biologistische Gleichsetzung von Wahrheit und Natur verstanden werden kann. Ein Beispiel dafür ist Kenneth: Die Frage nach seiner 'wahren' Herkunft hat ihn schon sein ganzes Leben lang beschäftigt: «Ich hab mich mein ganzes Leben schon gefragt, was ich bin.» So verstünden seine Eltern sich als Afghanische Minderheit, die lange im Iran gelebt habe. Die Grossmutter hingegen sagte, sie kämen aus Indien. Ausserdem attestiert er sich selbst eine «persische Nase». Tatsächlich stellt sich das Resultat für ihn als richtungweisend heraus, denn der Tests weist ihm zu 20% persische, grösstenteils (über 60%) aber indische DNA zu. Er fragt sich, was seine Eltern sagen würden, wenn sie erführen, dass sie «in Wirklichkeit gar keine Afghanen» seien. Dieser Schluss deutet einerseits auf ein undifferenziertes Verständnis von Nationalität und Ethnizität hin, andererseits auf eine Nichtberücksichtigung von kulturellen Faktoren. Das «Wirkliche» wird also durch diese spezifisch organisierte Datenbank basierend auf biologischen Daten allein definiert. Andere Identitätskonzepte, wie potentiell sensible nationale oder politische Selbstverständnisse, sind in dieser Logik zweitrangig.

Vertrauen in Datenschutz und Datensicherheit

Angesichts der Sensibilität der DNA-Daten ist das Vertrauen in die Sicherheitsmaßnahmen und Datenschutzpraktiken der Unternehmen entscheidend. Doch Unsicherheiten dazu werden in den Videos fast nie geäussert, und wenn, dann in nicht ganz ernst gemeinter Form wie bei YouTuberin Brittany Vasseur: «How do I know, that there’s not some evil genius out there who’s gonna break in, steal the DNA, create a clon army and take over humanity»[3]. Die Bedenken werden schnell mit dem Satz: «All in the name of making a good YouTube video» weggewischt.

2018 gab es tatsächlich ein grösseres Datenleck [4] beim Anbieter Myheritage, bei dem Daten von fast 100 Millionen Nutzer:innen geklaut wurden. Allerdings handelte es sich dabei laut MyHeritage nicht um sensiblen DNA-Daten, sondern lediglich um Passwörter und Login-Informationen. Zu denken geben könnte es jedoch trotzdem. Eine weitere Unklarheit, die in den Videos nicht thematisiert wird, ist die potentielle (anonymisierte) Weitergabe (sprich: Verkauf) der DNA-Daten für die Forschung. Bei einigen Anbietern wird dafür ausdrücklich eine Zustimmung verlangt, bei anderen ist die Default-Einstellung jedoch die Zustimmung und so muss ausdrücklich angegeben werden, wenn dies nicht gewünscht wird. Dieses Vertrauen mag in den untersuchten Fällen vielleicht auch nicht besonders verwundern, teilen die YouTuber:innen ja ohnehin ihre Ergebnisse und viele andere, persönliche Details ihres Lebens im Internet.

Dass die Ergebnisse auf YouTube geteilt werden, hat unterschiedlich Gründe: hoher Unterhaltungswert, Aufspringen auf einen Trend, aber manchmal auch der Wunsch nach Verbindung, nach Vernetzung mit anderen Suchenden. Die Suche kann sich dabei auf Verwandtschaftsbeziehungen, Familiengeheimnisse oder auf Identitätskonstruktionen durch nationale oder ethnische Zuschreibungen beziehen. Oftmals findet dabei in den Kommentarspalten eine Vernetzung mit anderen statt. Doch mit jedem Video tragen die YouTuber:innen zu ihrem digitalen Fussabdruck bei, erweitern ihre Online-Persönlichkeits-Erscheinung. Und natürlich sind die Videos – trotz ihrer Ungezwungenheit und des Einsatzes von Authentizitätsmarkern (z.B. durch Live-Reaktion) eine Inszenierung. Sie sind geschnitten, teils mit Musik oder Effekten untermalt, die Kamera ist und bleibt überpräsent: es ist keine ‹versteckte Kamera›, im Gegenteil, die Kamera ist die stumme Gesprächspartnerin, ein Äquivalent für das Publikum. Und dennoch scheint das Vertrauen in die richtige Auffassung dieser Videos gross zu sein: die YouTuber:innen scheinen sich keine Sorgen zu machen, dass sich jemand an ihren potentiell problematischen Aussagen stören könnte oder sie später damit in Verbindung gebracht werden könnten. So werden Konzepte wie Race, Ethnizität oder Nationalität sehr undifferenziert verwendet, indem beispielsweise bei einem winzigen Anteil nigeriansicher DNA der Schluss gezogen wurde, Schwarz zu sein. Auch werden oft stereotype äusserliche und innerliche Merkmale mit spezifischen Gruppen in Verbindung gebracht, was Vorurteile verstärken kann. Die Vermischung unterschiedlicher Identitäts-Konzepte ist nicht zwingend problematisch, solange sie in einem selbstbestimmten und selbstermächtigenden Kontext erfolgt. Sie bietet sich jedoch – hier wird es problematisch – zur Übertragung auf Andere an, etwa wenn von Äusserlichkeiten auf Staatszugehörigkeit geschlossen wird. Aber mit Rückgriff auf welche Indetitätskonstruktion jemand auf die von den YouTuber:innen viel zitierte Frage ‹What are you?› nun antworten möchte, sollte den Akteur:innen selbst überlassen bleiben. Wie relevant genetische Daten zur Abstammung dazu sind, ist und bleibt aber umstritten.