Filmische Vergangenheit – feministische Zukunft?
Anhand einer Analyse des Dokumentarfilms «Eine andere Geschichte» (1993) von Tula Roy denkt die Autorin über gesellschaftspolitische und generationenübergreifende Wirksamkeiten von Filmen nach. Roys Film bildet feministische Geschichte(n) nicht nur ab, sondern bringt überhaupt erst eine audiovisuelle Historiografie der Bewegung und ihrer unterschiedlichen Akteur:innen in der Schweiz hervor. Welche feministischen Möglichkeitsräume erschafft dieser Film heute?
Trillerpfeifen, aus der Ferne wabern unverständliche Worte aus einem Megafon. Sitzgelegenheiten aller Art blockieren die Tramschienen der Zürcher Innenstadt, Picknickdecken sind fein säuberlich über das Pflaster drapiert. Jung und Alt machen es sich bequem, einige schützen sich mit Regenschirmen vor der grellen Sonne. Lila Ballons, lila Socken und lila T-Shirts kolorieren die Bilder. Es ist der 14. Juni 1991. Mit Aufnahmen des ersten schweizerischen Frauenstreiks endet Tula Roys tour d’horizon durch die Schweizer Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der mit dem Kameramann Christoph Wirsing umgesetzte Dokumentarfilm Eine andere Geschichte[i] (1993) erzählt in drei Teilen à je eine Stunde die Zeit zwischen 1910–1991 aus einer feministischen Perspektive.
Tula Roy gehört zu den «Pionierinnen»[ii] des Schweizer Films. Diese erste Generation weiblicher[iii] Regisseurinnen formierte sich ab den späten 1960er-Jahren zeitgleich und mitunter im Dialog mit der Neuen Frauenbewegung. Viele Regisseurinnen jener Zeit nutzten das Medium Film, um gegen geschlechterspezifische Unterdrückungen und Ungleichheiten künstlerisch-aktivistisch anzukämpfen. In vielen dieser Arbeiten – insbesondere im Bereich dokumentarischer Videos – steht nicht die Abbildung patriarchaler Strukturen im Zentrum. Stattdessen präsentieren sie feministische Kämpfe und Alternativen zu patriarchaler Herrschaft. So portraitierte beispielsweise die studentische Gruppe Container-TV gemeinsam mit den Videohexen in Frauen – jetzt langt’s (1978/79) verschiedene feministische Akteur:innen und Organisationen, darunter die Redaktion der Zeitschrift Emanzipation. Oder in Wechselbad oder aus der Lava in die Matte Gasse (1980/81) dokumentiert das lesbische Filmkollektiv Homex AG das Zürcher Frauenzentrum und dessen Umzug an die Mattengasse sowie die Besetzung der Zürcher Liegenschaftsverwaltung durch die Frauenbefreiungsbewegung (FBB). Meist entstanden diese Arbeiten in politischen Kollektiven und sie hielten einzelne Akteur:innen oder Ereignisse aus ihrem jeweiligen Umfeld mit der Kamera fest. Tula Roy wählte einen wortwörtlich «anderen» Zugang: Kurz vor der Jahrtausendwende erschuf sie eine audiovisuelle Historiografie der Schweizer Frauengeschichte im 20. Jahrhundert.
Mich interessiert in diesem Text weniger die feministische Wirksamkeit solcher Filme in ihrer Entstehungszeit oder ihre damalige Verbindung zur Neuen Frauenbewegung in der Schweiz. Stattdessen denke ich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – am Beispiel von Eine andere Geschichte darüber nach, warum das audiovisuelle Festhalten, Bewahren und Vermitteln feministischer Vergangenheiten einen Ausgangspunkt für die gegenwärtige Arbeit an einer feministischen Zukunft bietet.
Feministisch-filmisches Archivieren
In Eine andere Geschichte berichten gut 20 Zeitzeuginnen über ihr feministisches Engagement sowie die vielfältigen Ereignisse und Errungenschaften der Schweizer Frauengeschichte. Angereichert und ergänzt werden die Oral History-Interviews mit vielerlei Ton- und Bildmaterialien, aber auch Dokumenten aus institutionalisierten und privaten Sammlungen. Der erste Teil thematisiert beispielsweise das sozialistisch-pazifistische Engagement von Clara Ragaz oder den Kampf für das Frauenstimmrecht in den Jahren des Ersten Weltkriegs. Das zweite Kapitel beinhaltet unter anderem den Frauenhilfsdienst (FHD) im Zweiten Weltkrieg oder den Basler Lehrerinnenstreik im Jahr 1959. Der dritte Teil umfasst die Zeit der Neuen Frauenbewegung, wobei mitunter die Bestrebungen für einen straflosen Schwangerschaftsabbruch, die Ausstellung Frauen sehen Frauen im Jahr 1975 oder die Organisation für die Sache der Frauen (OFRA) zur Sprache kommen.
In den von Roy eigens für den Film durchgeführten Interviews wird deutlich, wie das männliche Stimmvolk den Frauen politische Rechte stets aufs Neue verweigerte oder mit welchen Mitteln Medien und Justiz geschlechterspezifische Ungleichheiten produzierten und zementierten. Ihren Hauptfokus legt die Regisseurin aber darauf, wie die Frauen in unterschiedlichsten Berufen oder Organisationen mit verschiedensten Methoden und Anliegen über Jahrzehnte – oftmals erfolgreich – gegen diese patriarchalen Strukturen ankämpften. Dabei erscheint keine der Zeitzeuginnen als alleinige oder besonders heldinnenhafte Kämpferin und kein politisches Ereignis markiert sie als relevanter als ein anderes. Viel eher ist es die Vielfalt und Vielzahl von Personen und Politiken, die in Roys Inszenierung die Schweizer (Frauen-)Geschichte(n) auszeichnen – und geprägt haben. Durch die Nebeneinanderstellung und Verknüpfung der Erzählungen verordnet sie die einzelnen Personen und Phänomene in einem grösseren historischen Zusammenhang: Aus feministischen Fragmenten konzipiert die Regisseurin eine audiovisuelle Historiografie der Schweiz im 20. Jahrhundert.
Es erscheint mir sinnvoll, dokumentarische Filme wie Eine andere Geschichte, respektive Tula Roys konkretes Filmschaffen, nicht nur als eine filmische Dokumentation zu fassen, sondern darüber hinaus als Praktik der Archivierung.[iv] Viele von der dominanten Geschichtsschreibung vergessen gemachte Akteurinnen sowie deren Erinnerungen bewahrte Roy – teilweise noch kurz vor deren Tod – für die Nachwelt auf. Wie jede:r andere Archivar:in musste sie entscheiden, welche und wessen Geschichten sie sammeln, bewahren und vermitteln möchte.
Die Regisseurin sorgt für die Sichtbarkeit marginalisierter Ereignisse und Erzählungen, schreibt diese vom Rand ins Zentrum der Nationalgeschichte. Audiovisuelle Medien sind demnach sowohl Erinnerungspraktiken als auch Teil von Erinnerungspolitiken. Eine ambivalente Arbeit, sind Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit doch stets eng verbunden. Diese Schwierigkeit reflektiert auch der Filmtitel – ob bewusst oder unbewusst –, da er keineswegs behauptet, die andere Geschichte zu erzählen, sondern eine von vielen möglichen. Dass im Film mehrheitlich Organisationen und Personen aus dem linken politischen Spektrum sprechen, erklärt sich mitunter dadurch, dass die Projektidee von der SP-Frauengruppe Zürich stammte. Unerwähnt sind dennoch lesbische Akteurinnen und Vereine wie die Homosexuelle Frauengruppe (HFG) oder die Zeitschrift Lesbenfront (später Frau ohne Herz), was diese bereits damals scharf kritisierten.[v] Ungehört bleiben auch Organisationen von Schwarzen Frauen wie die Women of Black Heritage und politisch einflussreiche Persönlichkeiten wie Zeedah D. Mutheu Meierhofer-Mangeli oder die Nationalrätin Tilo Frey, die nach der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 zu den ersten Frauen im Parlament gehörte.[vi] Roys Bewahrung und Vermittlung feministischer Geschichte(n) ist folglich eine machtvolle Erinnerungsarbeit, die zwar einiges erneut unsichtbar, aber dennoch vieles möglich macht. Mit filmischen Mitteln sammelte sie feministische Vergangenheiten und montierte sie zu einer feministischen Historiografie, um eine wortwörtlich «andere» Zukunft zu ermöglichen.
Die Zukunft der Geschichte
Der Dokumentarfilm verdeutlicht, dass so fundamentale wie vermeintlich selbstverständliche Institutionen und Rechte eine Geschichte haben. Roy macht sichtbar, wie eine Vielzahl von Individuen und Kollektiven die Errungenschaften wie das Frauenstimmrecht oder den straffreien Schwangerschaftsabbruch während vieler Jahrzehnte erkämpften.[vii] Eine andere Geschichte ist keineswegs ein Spiegel der Vergangenheit, aber ein politisch-feministisches Korrektiv zur dominanten, patriarchalen Geschichtsschreibung.
Doch was unterscheidet eine audiovisuelle Historiografie von den schriftlichen oder mündlichen Pendants? Audiovisuelle Medien produzieren einen affektiven Zugang zur Geschichte: Sie lösen Gefühle und Emotionen aus, ermöglichen eine Identifikation mit den Akteur:innen der Vergangenheit.[viii] Tula Roys Film formt so eine übergenerationale Verbindungslinie und schafft das Angebot, sich als Teil einer noch immer andauernden feministischen Geschichte zu verstehen. Es entsteht ein hoffnungsvoller Referenz- und Ausganspunkt, zu dem sich aktuelle Feminist:innen in Beziehung setzen könnten. Indem der Film ein «historisches Erbe» vermittelt, wirkt er als eine «Lektion an die symbolischen Töchter»[ix], wie die Filmwissenschaftlerin Cecilia Hausheer treffend argumentiert. Diese Perspektive erlaubt es, feministische Dokumentarfilme wie Eine andere Geschichte nicht nur als widerständige Formen der Geschichtsschreibung und -erzeugung zu untersuchen, sondern eine feministische Wirkungsmächtigkeit über den jeweiligen Entstehungskontext hinaus festzumachen.
Ein Ausganspunkt
Wir kehren zurück zu den Aufnahmen des 14. Juli 1991. Ein buntes Streikmeer auf dem Zürcher Helvetiaplatz, Stimmengewirr und Trillerpfeifen. Schnitt. «Was die Frauen in der knappen Zeitspanne von 100 Jahren erreicht haben», sagt die von lila Ballons umsäumte Sprecherin in die Kamera, «macht das 20. Jahrhundert zum Jahrhundert der Frau. Bleibt zu hoffen, dass das nächste Jahrtausend zum Jahrtausend der Frau wird,» sie pausiert kurz, kneift die Augen ernst zusammen, «damit eine andere Geschichte beginnen kann.»[x]
Tula Roy präsentiert die Ereignisse in den Jahren 1910–1991 in einer chronologischen Form, aber keineswegs als eine singuläre und teleologische, zielgerichtete Geschichte. Der Frauenstreik erscheint nicht als feministisch-feierlicher Endpunkt, sondern als ein bestimmtes Moment in einer sich noch immer entwickelnden Geschichte. Hier zeigt sich die Doppeldeutigkeit des Filmtitels: Nicht nur inszeniert sie die Schweiz im 20. Jahrhundert aus einer «anderen», differenten Perspektive, sondern sie formuliert auch die Hoffnung auf eine noch kommende, «andere» Geschichte. Ihre filmische Archivierungspraxis bewahrt feministische Vergangenheiten, macht diese einer neuen Generation von Feminist:innen zugänglich und legt so eine Spur ins aktuelle Jahrtausend. Das Streikmeer auf dem Helvetiaplatz – von Aktivist:innen 2019 zu Ni-una-menos-Platz umbenannt – ist demnach nicht der End-, sondern viel eher ein Ausgangspunkt für die feministischen Kämpfe in der Zukunft.