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Die Masse macht’s: Protestieren in der Pandemie

Während der Pandemie waren Demonstrationen in Deutschland zunächst verboten und später nur begrenzt durchführbar. Das erfordert von den Organisierenden und Teilnehmenden der Fridays for Future-Demonstrationen moralisch-ethische Risikoabwägungen: Sollte man während einer Pandemie überhaupt demonstrieren?

Du siehst die Menschenmasse, die bunten Plakate, die roten Klimakarten, die im Protestzug hochgehalten werden. Du hörst die rhythmischen Trommeln und die Sprechchöre, die Veränderungen fordern. Was fällt dir sonst noch auf? Zeigt dieser Ausschnitt eine Momentaufnahme vor oder während der Pandemie?

Dieser Moment wurde beim Globalen Klimastreik in Bonn im September 2021 aufgenommen. Ein Tag, an dem, wie der Name schon sagt, weltweit für das Klima protestiert wird. Obwohl Menschen im Video auf der Strasse protestieren, ist die Demonstration von der Pandemie und den damit einhergehenden Regeln und Risiken gekennzeichnet. Die individuellen Aushandlungen, die in der Pandemie eine Rolle spielen – Traue ich mich rauszugehen und mit anderen zu protestieren? Wie werde ich von anderen wahrgenommen, wenn ich es tue? – bleiben im Videoausschnitt unsichtbar. Sichtbar sind aber die Masken, der Abstand und die reduzierte Masse als äussere Zeichen der Pandemie.[i]

Klimastreik Hofgarten 25.09.2020, Foto: Valeska Flor

«Kurz nach 10 Uhr bin ich aus dem Büro und kurz darauf im Hofgarten. Die erste große Klimademo in Corona-Zeiten. Schon an der Ampel höre ich die Lautsprecherdurchsagen und kaum am akademischen Kunstmuseum vorbei, sehe ich auch schon eine größere Anzahl von Menschen. Für mich wirkt das Ganze ziemlich eng, erst als ich näher komme höre ich die ständigen Durchsagen, «sich doch bitte an die Aufstellungsvorgaben zu halten». Auf dem Boden, im Gras, sind Markierungen im Abstand Radius 1,50 m gesprüht, die als Visualisierung des Hygienekonzeptes dienen. Ich stelle mich auf. Die Hofgartenwiese füllt sich. Die Menschen halten sich an die Markierungen. Alle, auch Gruppen, haben sich verteilt und stehen und sitzen auf einem der Flecke. Alle haben Masken auf.»

(Ausschnitt Feldforschungsjournal Valeska Flor, 25.09.2020)[ii]

Vielleicht hast du in deiner Stadt in den letzten Jahren, Monaten und Tagen auch Klimaproteste wahrgenommen. Aber vielleicht waren diese auch weniger sichtbar als noch zu Beginn der Fridays for Future-Aktionen im Sommer/Herbst 2019. Zentral in diesem Zusammenhang ist die Präsenz im Stadtraum, denn die Strasse als Teil dieses Stadtraums ist Bühne der politischen und kulturellen Einflussnahme. Sie ist Aktionsraum in dem gemeinsame Werte, Ziele und Weltansichten an Wirkmächtigkeit gewinnen und vermittelt werden.

Was macht die Pandemie mit Protest?

Mit dem Beginn der Pandemie Anfang 2020 fühlten sich die Bonner Klimaaktivist:innen durch die Coronaschutzverordnungen und deren Folgen marginalisiert. Aufgrund von Versammlungsverboten und sich regelmässig ändernden Schutzmassnahmen waren sie als gesellschaftliche Akteur:innen im Stadtraum weniger sichtbar als in den Monaten zuvor. Denn Protestaktionen waren in Deutschland zunächst verboten und später nur begrenzt organisier- und umsetzbar. Zudem verzichteten die Klimaaktivist:innen im Zuge von moralisch-ethischen Risikoabwägungen und einer Orientierung an den Wissenschaften auch freiwillig auf Strassenproteste.

Das Projekt

Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Forschungsprojektes «Bonndemic. Stadtgesellschaft in und nach der Pandemie», das die Veränderungen des Bonner Alltags aus kulturanthropologischer Perspektive untersuchte. Das Teilprojekt «Protesträume in der Pandemie», unter der Leitung von Valeska Flor und der ausführenden Mitarbeit von Jasmin Sina, untersuchte coronakonforme Protestpraktiken, die sich in dreierlei Hinsicht manifestierten: (1) durch improvisiertes Handeln der Bonner Klimaaktivist:innen, (2) durch das Schaffen von kreativen Lösungsansätzen und (3) durch Pausen, die einige der Klimaaktivist:innen in der Pandemie einlegten.

Protesträume

Zivilgesellschaftliches politisches Engagement und Proteste sind fester Bestandteil der gesellschaftlichen Aushandlung von Gemeinwohl. Öffentliche Räume spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Sie sind historisch wichtige Bühnen zivilgesellschaftlicher politischer Artikulation und gleichzeitig Räume, in denen sich soziale Bewegungen als kollektive Akteur:innen formieren.[iii] Der Protestort oder vielmehr die Möglichkeitsräume von Protest verschieben sich durch Regulierungen und auch persönlichen Risikoabwägungen in der pandemischen Situation. Der öffentliche Raum bezieht sich nicht mehr nur auf die Strasse. Die Wirkmächtigkeit und das Störungspotenzial anderer, meist digitaler, Räume wird für die Visualisierung und Vergegenwärtigung des Protestes genutzt. Es besteht der Wunsch des Weitermachens, auch unter erschwerten Bedingungen, um die Reichweite des Protests nicht in Gänze zu mindern.

Digitale Klimaaktionen

Ein Aufruf von Fridays for Future zur digitalen Teilnahme am 19.03.2021, dem Globalen Klimastreik, Quelle: FFF Bonn

Um weiterhin Fortzubestehen wandelten Bonner Klimaaktivist:innen bestimmte Protestpraktiken in digitale Formate um. Soziale Medien und digitale Räume stellten schon vor der Pandemie etablierte Werkzeuge der Klimaaktivist:innen dar, um ihren Aktivismus auf der Strasse zu untermauern. Die pandemischen Umstände führten zu einer verstärkten Nutzung dieser digitalen Räume. Es wurde schnell auf die Gegebenheiten der Pandemie reagiert und improvisiert. So wurden zum Beispiel die wöchentlichen Plenarsitzungen von Fridays for Future über die Messaging-Plattform Discord organisiert. Vor der Pandemie fanden sie noch in Präsenz statt. Auch initiierten die Aktivist:innen Mitmach-Aktionen, beispielsweise gab es die Möglichkeit sich am Tag eines Klimaprotestes auf einer digitalen Karte einzutragen oder Protestschilder wurden online gesammelt und digital ausgestellt.

Digitale Protestaktionen ermöglichten allen Menschen einen coronakonformen Zugang zum Mitmachen. Die interviewten Klimaaktivist:innen nahmen digitale Aktionen als leicht zugänglich wahr und assoziierten damit einen «geringeren Zeitaufwand» (Interview Jule, 28).[iv] Sie beschrieben digitale Protestaktionen jedoch auch als «zum Gähnen» und als «eine minimal, bisschen langweiligere Form von Aktivismus» (Interview Finn, 32).[v] Die Aktivist:innen bemängelten auch, dass sie online oft nur in ihrer eigenen «Blase» interagierten und das Gefühl hatten, keine Aufmerksamkeit in der Stadtgesellschaft zu erregen.

So erlaubten digitale Protestaktionen oft nicht das gleiche Störungspotenzial oder die gleiche Reichweite, wie Massenproteste es im öffentlichen Stadtraum zuvor erreichen konnten. Die Protestforschung[vi] betont, dass Emotionen eine zentrale Rolle in der Mobilisierung von Protest spielen. Diese Emotionen werden am effektivsten über körperliche Interaktionen hergestellt und repräsentiert. So entsteht ein Gefühl der Wirkmächtigkeit und Legitimität für die Klimaaktivist:innen. Wie die Interviewpartner:innen beschrieben, stellte digitales Partizipieren allerdings eher eine Art kreative Notlösung mit vorübergehendem Improvisationscharakter dar. Denn diese Lösungen tragen für die Forschungspartner:innen nicht die gleichen Eigenschaften wie Proteste vor der Pandemie und es entsteht ein Erfahrungsdefizit im Protesterlebnis.

Modifizierte Strassenproteste

Die Klimaaktivist:innen wissen, dass Proteste auf der Strasse fundamental für die Klimabewegung und ihre Ziele sind. Um eine Rückkehr auf die Strasse zu erlauben konzentrierten sich sie sich darauf, diese Protestform coronakonform zu organisieren. Diese Entscheidung unterlag einer ständigen moralischen Risikobewertung und teils kreativen Lösungen. Das soll bedeuten, dass sie kreativ werden mussten um Proteste den Coronaregelungen anzupassen, zum Beispiel durch die Abstandsmarkierungen auf der Bonner Hofgartenwiese.

Menschen stellen sicht vor dem Protestzug in Fahrradreihen auf, Bonn, 08.11.2020, Foto: Jasmin Sina

Diese kreativen und improvisierten Ansätze wurden auf einer Fahrraddemonstration im November 2020 gegen den Ausbau der Bundesautobahn 565 in Bonn genutzt. Die Demonstrant:innen fuhren hintereinander statt nebeneinander, um den Mindestabstand zwischen den Teilnehmer:innen einzuhalten und trotzdem im Stadtraum zu protestieren. Ein positiver Nebeneffekt war, dass der Protestzug länger war denn je und somit auch das Störungspotenzial grösser.

Wie im Video und den Fotos zu sehen ist, wurde bei allen analogen Aktionen darauf geachtet, dass die Aktivist:innen an der frischen Luft waren, Mindestabstände einhielten, Gesichtsmasken trugen und ihre Kontaktdaten für eine potenzielle Nachverfolgung hinterliessen. Viele Teilnehmer:innen zeigten sich begeistert darüber, dass im Stadtraum protestiert werden konnte, dass die Mitstreitenden und Gleichgesinnten getroffen werden konnten, dass Protest wieder körperlich-emotional erlebbar war und sie sich dadurch wirkmächtig fühlten.

Denn für die Klimaaktivist:innen sind die Proteste im Stadtraum «die wirklich wichtigen Aktionen» und «das, was die Bewegung zusammenhält» (Stefan, 22).[vii] Sie haben die Wahrnehmung, über Proteste auf der Strasse Veränderungen hervorbringen zu können. Somit versuchten die Klimaaktivist:innen durch modifizierte analoge Protestaktionen den Status Quo von vor der Pandemie aufrechtzuerhalten beziehungsweise wiederherzustellen. Und auch wenn die Teilnehmerin Matilda beschrieb, dass sie sich durch die Abstände zwischen den Fahrrädern nicht als Teil einer Masse fühlte, wird die körperlich-emotionale Erfahrung des analogen Protests jeder anderen kreativen Form von Pandemieaktivismus vorgezogen (Matilda, 20).[viii]

Die Pandemie als Pause

Doch durch die veränderten Protesterfahrungen zu Beginn der Pandemie hatten nicht alle Klimaaktivist:innen das Gefühl, dass ihre Aktionen gesellschaftlich anerkannt sind. Das Erlebnis der massenhaften Zusammenkünfte und die Wirkmächtigkeit von vor der Pandemie konnten weder digital noch angepasst analog gleichermassen reproduziert werden.[ix] Aufgrund dessen legten einige Aktivist:innen eine Pause in der Pandemie ein und engagierten sich nicht im Klimaaktivismus. Andere pausierten in Anbetracht von Gesundheitsrisiken.

Nicht das sichtbar Aktiv-Sein wird zum Status Quo, sondern das Abwarten. Emma zum Beispiel betonte, dass Menschen jetzt andere Sorgen haben, sich um ihre eigene Gesundheit kümmern müssen und dass es schwer sei, Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu erregen (Interview Emma, 26).[x] Obwohl sich ihre Meinung bezüglich der Dringlichkeit zur Anpassung und Abschwächung der Klimakrise nicht verändert hat, ergaben sich andere Prioritäten in ihrem Pandemiealltag. Die Vorstellung von klimabewusster Dringlichkeit steht im Konflikt mit der Logik des pandemischen Abwartens.

Verlangsamung

Insgesamt verlangsamte sich der Klimaaktivismus für die Bonner:innen in der Pandemie. Dies ist eine übergeordnete Dynamik, die in der Forschung des Teilprojekts deutlich wurde. Doch keine der drei Reaktionen, also 1) die kreative Verschiebung in improvisierte, digitale Räume 2) der modifizierte analoge Proteste entlang von moralisch-ethischen Risikobewertungen oder 3) die Pause oder das Abwarten, stellte eine ideale, nachhaltige Lösung in der Pandemie dar. Es sind individualisierte Kompromisse, die einen temporären Charakter haben und als Notlösungen konzipiert sind.

Am Beispiel des Globalen Klimastreiktages wird der Wunsch nach weit sichtbarem Fortbestehen deutlich und zeigt die Resilienz der Bonner Klimaaktivist:innen. Für die Wirkmächtigkeit von Protest ist die Strasse in Bonn Dreh- und Angelpunkt. Das körperlich-emotionale Erlebnis in Verbindung mit der Sichtbarkeit als Störfaktor im öffentlichen Raum wird im Digitalen nicht in gleichem Masse kreativ reproduziert. Der ausgebremste Klimaaktivismus ist gekennzeichnet durch eine Wechselwirkung zwischen digitalen und analogen Handlungsräumen, sowie den damit einhergehenden Zuschreibungen, die einer ständigen individuellen und kollektiven Aushandlung unterlagen. Für die Bonner Klimaaktivist:innen gilt: Wenn sie etwas verändern wollen, müssen sie auch im Stadtraum als Masse präsent sein.