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Berechnete Zerstreuung? Überlegungen zu paradoxen Konstellationen im Gaming

Computerspiele verweisen auf die Anziehungskraft paradoxer Konstellationen, in denen sich Widersprüche aufheben, weil sie zugleich zerstreuen und bündeln.

Was zerstreut und bündelt zugleich?

«Was zerstreut und bündelt zugleich?» So könnte die Frage der Sphinx in einem digitalen Theben des derzeit viel diskutierten zukünftigen Lebensraums des Metaverse lauten. Nachdem physikaffine User:innen mit Antworten aus dem Bereich der Optik und Linsen scheiterten, käme ein:e Unbekannte:r daher, vielleicht, nein bestimmt ein:e Kulturanthropolog:in. Sie hätte die richtige Antwort parat, um den Bann der Sphinx zu lösen. Sie lautet: Das Spiel.

Spiel bündelt: Energien und Kräfte, es schafft Gemeinschaft, Immersion und Flow. Spiel zerstreut: es lenkt ab von allem, was uns drängt. Es schafft gleichsam einen eigenen Raum im Alltag, der aber durchlässig ist. So schenkt Spiel Pausen von Arbeit – oder lässt die Arbeit als Spiel erscheinen. Diese paradoxe Konstellation stellt nur eine von vielen Mehrdeutigkeiten des Spiels dar. Die paradoxe Konstellation des Spiels ähnelt dem Grundprinzip der paradoxen Kommunikation, in der sich widersprüchliche Aussagen aufheben. Nur dass sich im Spiel vor allem widersprüchliche Erlebnisse aufheben und dass das Spiel selbst Widersprüchlichkeiten in sich vereinen und aus sich heraus gestalten kann. Teil der paradoxen Konstellation von Spiel kann etwa auch Zusammenkommen von Regel und Zufall, von Sicherheit und Unsicherheit sein. Daraus entwickeln sich spezifische Entscheidungsarchitekturen. Fernab von allem Theoretisieren zeigen sich die schönsten Momente von Spiel in seiner Kraft zur Immersion. Das bedeutet, dass Spielende vom Spiel so eingefangen sind, dass alles andere in Vergessenheit gerät. Und genau dann, wenn sie im Flow sind, setzt die Erfahrung der Zerstreuung ein.

Abb. 1: Ohanasan playing «Go» Game, Postkarte (ca. 1907-1918). New York Public Library Digital Collections

Alles ist im Spiel

Das Wort «Spiel» mag zunächst «klassische» Brettspiele ins Gedächtnis rufen, von denen einige, etwa Backgammon, Go, Mancala, Mühle oder Schach eine über tausendjährige Geschichte haben. Spiele haben Geschichte und sind geschichtlich, aber erwecken den Anschein von etwas Universellem und Zeitlosem: Wettkämpfe, Kinderhüpfspiele, Tänze, Verkleidungen aller Art prägen Jahreszyklus, Rituale und das alltägliche Unterhaltungsprogramm. Ob Kartenspiele, Glücksspiele, Tanzspiele, Maskeraden, Wettspiele, Rollenspiele und seit nunmehr fünfzig Jahren auch Videospiele – ihre Existenz bezeugt, dass Spielen eines der liebsten Beschäftigungen von Menschen ist. Spielen befriedigt ein Grundbedürfnis. Menschen spielen, nicht weil sie Menschen sind, sondern weil sie sind. Alles ist im Spiel. Krähen spielen, Delphine spielen, Bienen spielen, vielleicht spielen sogar die Sterne, wenn man sie aus dieser Perspektive betrachtet.

Doch die körperlichen, performativen und kognitiven Fähigkeiten, die Menschen sich beim Spielen abverlangen oder die ihnen abverlangt wird, lassen Schlüsse über die spezifisch menschliche Art des Spielens zu. Spielen stellt vor diesem Hintergrund eine anthropologische Kategorie dar. Sie liefert Aussagen darüber, wie Menschen etwa in ihrer Umgebung mit all dem interagieren, was mehr-als-menschlich ist: Ob mit Erde und Löchern, wie beim Golfen, oder Wasser und Oberfläche, wie beim Surfen; ob mit Steinen und Kanten, wie beim Klettern, oder Pflanzen und Pilzen, wie sie zum halluzinogenen Erleben beim Rausch und Tanz Einsatz finden – oder ob Menschen mit Tieren im Spiel sind, wenn Hähne im Hahnenkampf sich messen, Hunde einen Ball von der Hundehalter:in holen oder Menschen auf Pferden reiten. Nicht zuletzt dienen digitale Objekte, Algorithmen und Computerwelten als Möglichkeiten zum Spiel.

Schon die Etymologie des Wortes «Spiel» verweist auf Zerstreuung und zugleich auf den hohen ritualisierenden und ritualisierten Grad des Spielens: «Tanzen, Zeitvertreib, Vergnügen», die drehende Bewegung (ahd. spil) und das Zusammenkommen von Menschen, um auf die Jagd zu gehen. Die englische Doppeldeutigkeit von Game verweist bis heute auf die semantische Nähe von Spiel und der geglückten Jagd durch die gefangene Beute. Game leitet sich aus dem indoeuropäischen Präfix ga («zusammen») und mann («Stamm») her. Die Praktiken des Tanzens und Jagens eint unter anderem, dass sie Rhythmus haben, mit Schwerkraft spielen, den Zufall durch Struktur und Regeln einzuhegen versuchen. Sie erlauben das Einüben in das, was damit zum Gewohnten wird und gleichzeitig zeigen sie, dass es immer einen nicht zu reduzierenden Grad an Ungewissem gibt, dem Menschen sich als Lebewesen aussetzen. So werden Spiele sinnbildlich für das Dasein.

Die Flucht vor der Zerstreuung in eine berechnete Welt

Eine weitere paradoxe Konstellation des Spiels stellt sich insbesondere im Videospiel ein: Hier wird Spiel zu einem Phänomen, in dem sowohl Arbeitskraft als auch ein Freizeitbedürfnis reproduziert werden kann. Nicht bloss, weil Spiele so gestaltet sind, dass sie in neoliberale, postfordistische Vorgänge einer computerbasierten Arbeitswelt einüben. Sondern auch, weil sie gemacht werden – und das Spielemachen Arbeit bedeutet.

Computerspiele schaffen darüber hinaus Gaming-Communities. Sie stiften translokal Gemeinschaft. Durch die dabei genutzten Plattformen verwischen Computerspiele als soziales und kulturelles Phänomen den Alltag des im-und-außerhalb-vom-Spiel-sein: Menschen können ein Spiel gerade nicht spielen, aber auf einer Online-Plattform, wie etwa Discord mit anderen Spieler:innen über das Spiel im Spiel gehalten werden. Menschen spielen auf solche Art, dass für sie das Spiel arbeitsförmig wird.

Nicht zuletzt entfalten auch Computerspiele eine Sogwirkung. Die Zerstreuung kann zur Sucht werden. Aus der Kurzweil kann lange Weile, aus der Betriebsamkeit Unruhe und aus der Befriedigung ein Gefühl der Unbefriedigtheit erwachsen. Die Müdigkeit mag über einen kommen, aber Mensch kann nicht aufhören zu spielen, nur noch eine Runde weiter, nur noch eine weitere kleine narrative Verschiebung im Gameplay erleben...

Auch deshalb gelten Videospiele als ein Medium der Zerstreuung. Sie bannen die Aufmerksamkeit der Spieler:innen, nur um sie zu verteilen, wie die Medienwissenschaftlerin Petra Löffler schreibt.[i] Sie bereiten Freude und Vergnügen durch Ablenkung. Während des Computerspielens wird jedoch mit jedem weiteren erreichten Level mehr Konzentration vom Spielenden abverlangt. Die Zerstreuung wird gebündelt. Immer wieder mag es Momente des Ausruhens geben, gerade bei digitalen Abenteuerspielen und Rollenspielen, in denen es längere Walk-Through-Passagen gibt.

Mit jedem gemeisterten Hindernis kommt das Erlebnis der Belohnung. Das Ausmass der Freude am Erreichten oder die Verzweiflung über das Verlorene wächst dabei mit. Videospielen erfordert somit beides: Grösste Aufmerksamkeit und die Lust an der Zerstreuung. So erklärt sich auch der paradoxe Assoziationsraum des onomatopoetischen Wortes «Daddeln» – das einerseits die Vorstellungen von gedankenlosem Vor-sich-hin-tippen und andererseits von hochkonzentrierter Tastatur- und Joystickvirtuosität wecken kann.

Abb. 2: Nintendo GAMEBOYTM Model No. DMG-01 (1989) mit den Spielen Tetris und Zelda. Foto: Anne Dippel

Computerspiele können als elektronische Systeme gedacht werden, die auf das Feedback der Spieler:in Antworten generieren können. Nicht die Interaktivität, sondern automatisierte algorithmische Prozesse und Simulationen unterscheiden daher Videospiele von Brettspielen. Es wird in Feedback-Schleifen gespielt: Computerspiele verlangen Reiz-Reaktions-Training und die Koordination von Hand und Auge.

Konzentration, Reaktionszeit und Geschicklichkeit tragen zum Spielerfolg bei, selbst im Easymode. Der Grad der Versenkung im Spiel, der Immersion und des Flows, dem Anzapfen des neurokognitiven Reaktionsvermögens und des Endorphinhaushalts von Menschen entziehen sich den Kategorien des Stumpfsinns oder der Epiphanie: Das Videospielen oszilliert zwischen Bewusstsein und unbewusster Sinnlichkeit, zwischen Sinn, Unsinn und Nichtsinn. Deshalb ist Spiel paradox, eben mehr als bloß ein Medium der Zerstreuung.

Aus dem Zeitvertreib wird Zeitverbleib

Feedbackschleifen von Reiz-Reaktion, wie sie aus Actionspielen bekannt sind, stellen nicht die einzigen rekursiven Interaktionen von Spieler:in mit Spiel dar. Viele Computerspiele arbeiten mit Hypertexts. Sie erlauben nicht-lineares Erzählen. Spiele können mehrfach gespielt werden, unterschiedliche Spielverläufe erfahren werden. Verschiedene Entscheidungsszenarien im Spiel stellen Teil des Thrills von Spielen dar. Deshalb sind Computerspiele besonders komplexe Entscheidungsarchitekturen. Weil Mensch als Spieler:in entscheiden kann, erlebt Mensch sich als Handelnde:r.

Durch die Interaktion mit Non-Player-Charakteren und anderen Spieler:innen erlebt die oder der Spielende in der Simulation das Gefühl selbstbestimmt entscheiden zu können. Aber weil ein Spiel programmiert ist, stellt dieses Erleben nur etwas Virtuelles dar, das aber im Moment nichtsdestoweniger als Empowerment erfahren werden kann. Verzweigte Geschichten, die Möglichkeit diesen oder jenen Weg noch einmal zu spielen, und die Frage, was gewesen wäre, wenn ich als Spieler:in einen anderen Weg genommen hätte, sind für Computerspiele fundamental. Der bühnenartige und erzählerische Anteil menschlichen Spielens erfährt in Computerspielen neue Entfaltungsmöglichkeiten. Sie zeugen damit von der Macht des Erzählens und dem Wunsch der Menschen im Spiel des Lebens selbst mitgestalten zu dürfen, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen.

Dieser Aspekt macht Computerspiele zu Medien der Fluidität und Diversität, denn wenn etwas gewählt werden kann, dann ist es die eigene Spieler:innenidentität, bis hin zur Anmutung von Haut und Haar. Zugleich aber, auch das ein Teil der Ambiguität von Spiel, werden in den Entscheidungsarchitekturen Identitäten beschworen, von Zauberer:in bis zur Zwerg:in, von der Elf:in bis zur Oger:in, von amerikanischem/r bis zum russischen/r Soldat:in.

So sind Spiele dann eben doch wiederum nicht unähnlich zu dem doppelten Vermögen von optischen Linsen, die eben Licht zerstreuen oder bündeln können. Spiele identifizieren und diversifizieren zugleich. Sarkastische Menschen könnten behaupten, eine ganze Generation von Menschen sozialisiert sich in Spielen und ihren sozialen Räumen und ihre soziale Energie zerstreut sich in berechneten Welten, in digitalen Architekturen. Anstatt an den politischen Grundfesten demonstrierend und politisch aktiv am Weltgeschehen mitzuwirken, delektieren sich diejenigen, die sich Konsolen und Computer leisten können in einem riesigen digitalen circus maximus. Ave Caesar, morituri te salutant...

Abb. 3: Box von Zork (Infocom 1980) mit Computer. Foto: Sebastian Grünwald (CC BY 3.0, Wikipedia)

Digitales Ambiente – Medien der Zerstreuung

Videospiele können zur Arbeit werden, etwa durch Formen des «Grindens». Hierbei werden langwierige, monotone und auch anstrengende Aufgaben erfüllt, um einen bestimmten Status zu erhalten oder Punkte zu bekommen. Sie können als Kapitalmaschinen dienen und durch Bezahlsysteme zur Kapitalakkumulation eingesetzt werden. Sie können aber, insbesondere, wenn sie als eine Art Hintergrundprozess im Alltag integriert sind, eine zweite Form der Zerstreuung bieten, eine konstruktive und eine destruktive – auch hier zeigt sich eine paradoxe Konstellation. Spiele bieten so Entlastungserfahrungen von Arbeitssituationen, die vielleicht als entkräftend, ermüdend oder selbstentfremdend erlebt werden – oder von Ohnmachtsgefühlen angesichts von Krisen, die vom Einzelnen als kaum mehr bewältigbar erlebt werden.

Seitdem Gadgets wie das Smartphone den Alltag von Menschen bestimmen, haben sich auch die Anzahl von informatischen Hintergrundprozessen vervielfältigt, die, während ein digitales Gerät angeschaltet ist, unablässig in Betrieb sind. Damit sind Computerprogramme gemeint, die laufen, ohne dass dabei eine Interaktion über das Interface mit Nutzer:innen stattfindet. Ob es sich um den automatisch während des Hochfahrens des Betriebssystems startenden VPN-Client handelt, der eine sichere Netzwerkverbindung garantiert oder um die Prozesse, die das Android-Betriebssystem auf dem Smartphone laufen lassen – wir haben keinen Einfluss auf sie, aber sie haben einen bis zu einem gewissen Grad Einfluss darauf, welche Spiele sich entwickeln – neue Computerspiele nämlich, die so wie Hintergrundprozesse als eine Art Ambiente uns medial umgeben.

Abb. 4: Spirits (2012). Spaces of Play UG. Steam

Ambient Games bauen auf einer langsamen Spielmechanik auf. Anstelle von Action dienen die Spiele dazu Stress abzubauen und zu beruhigen. Die Zerstreuung hilft den Fokus im Alltag wieder zu gewinnen und sich den Prozessen der Erschöpfung durch die digitalisierten Zeitrhythmen zu entziehen. Im Spiel «Spirits» etwa, 2012 von Spaces of Play UG entwickelt und auf der Spieleplattform «Steam» erhältlich, können durch die Bewegung von Wind und die Gestaltung des Bodens Blätter an ihren Bestimmungsort geführt werden. Wandering Games wie etwa Dear Esther (2012, The Chinese Room), in denen die Spielenden durch eine virtuelle Umgebung bewegen und sie entdecken, stellen eine immer populärer werdende Mischung aus den hier vorgestellten Spielmechaniken dar: das Spielen auf der Basis von Feedbackschleifen, mit und in Hintergrundoperationen und in Hypertextarchitekturen.

Dabei stellen Ambientspiele nur einen geringen Anteil von Programmen dar, die im Hintergrund operieren und Menschen im Digitalen wie Fahrstuhlmusik umspülen. Zu ihnen zählen Recommender Systems, die uns Musik vorschlagen, Tik-Tok- und Youtube-Kurzvideos, die ohne Pause nacheinander ablaufen oder Study-with-me-Kanälen und Lofi-Playlists für Studierende fokussieren durch Zerstreuung. Sie halten durch Zerstreuung im Loop und zerstreuen durch Looping.

Abb. 5: Study with me Live Stream “STUDY and WORK AMBIENCE 24/7 for DEEP FOCUS 🍁 Cozy Autumn Afternoon Vibe” (2022). YouTube

Wir stehen erst am Anfang einer neuen Dimension von Spielen, in denen wir nicht mehr allein interagieren, sondern, wie die Spieltheoretikerin Sonia Fizek argumentiert, interpassiv in Medien der Zerstreuung eine Form des digitalen ästhetischen Ambientes geniessen.[ii] Sie führen uns die wesentlichen Fragen vor Augen: Fragen nach dem, was wir mit der Zeit tun, die uns auf diesem Erdenrund gegeben ist und ob es, angesichts klimatischer und politischer Krisen allerorten, nicht auch an der Zeit ist zu diskutieren, wie und wo wir einfach mal abschalten – auch um die Zukunft unseres Planeten willen, um uns anderweitig zu zerstreuen und zu bündeln.

Einige Abschnitte dieses Beitrags sind in einer früheren Fassung im Artikel «Spielmaschinen – Wie wir mit Computern spielen und wie der Computer mit uns spielt» – Stimme der Familie 4 (22), S. 17-19 erschienen.

Anne Dippel

Anne Dippel ist Privatdozentin und am Seminar für Volkskunde/Kulturgeschichte der Universität Jena als Wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Ethnografische Feldforschungen führten sie unter anderem in die Kunst- und Kulturszene Wiens und an das Europäische Zentrum für Kernforschung (CERN). Ihr mit Martin Warnke verfasstes Buch «Tiefen der Täuschung. Computersimulationen und Wirklichkeitserzeugung» erschien vor Kurzem bei Matthes & Seitz.
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