
Gennaro Ghirardelli (15.8.1944 – 29.10.2024)
Nicole Peduzzi
Als Gennaro 2016 und 2017 seine beiden Syrien-Sammlungen dem EKWS-Archiv übergab, wütete der Bürgerkrieg in Syrien schon seit einigen Jahren. Die Bilder der Zerstörung und Gräueltaten, durch die Medien weltweit verbreitet, erzählten andere Geschichten als Gennaros Fotografien, die zwischen 1971 und 1984 entstanden waren. Sein Wunsch war es, auch diese Geschichten öffentlich zugänglich zu machen, um eine differenziertere und facettenreiche Wahrnehmungen Syriens zu ermöglichen.
Gennaro interessierte das Alltagsleben der Menschen in Syrien. Aufgrund der Errichtung des Euphratstaudamms wurden mehrere Dörfer der Region Tabqa/al Thawra komplett umgesiedelt. Gennaro dokumentierte das Leben der Menschen vor und nach ihrer Umsiedlung in den neu aufgebauten Dörfern Nordostsyrien. 1976 wurde er zwei Monate lang von seinem Freund und Fotografen Georges Müller-Kälin begleitet. Gennaro erzählte immer wieder von dieser sehr angenehmen Zusammenarbeit mit Georges. Ohne die Doppelrolle des Ethnologen-Fotografen einnehmen zu müssen, konnte er in dieser Zeit intensiver mit den Menschen interagieren und an ihrem Alltagsleben teilhaben, während Georges Begegnungen und Alltagsszenen fotografisch dokumentierte.

Gennaros Fotografien aus Aleppo haben aufgrund der Zerstörungen während des Bürgerkriegs heute eine besondere Bedeutung. Entstanden zwischen 1983 und 1984, zeigen sie das tägliche Leben der Einwohnerinnen und Einwohner in den Altstadtvierteln al-Jallum und al-Judaida. Sie geben Einblicke in die damals noch unbeschädigte Architektur der privaten und öffentlichen Gebäude. Zu sehen sind Häuser mit verzierten Fassaden und einladenden Innenhöfen, Handwerker bei der Arbeit, Verhandlungen in Läden, Bazaars und religiöse Bauten wie die Quartiermoschee oder die grosse Umaiyadenmoschee.

Mit der Übernahme seiner Syrien-Sammlungen begann Gennaros Arbeit für das EKWS-Archiv. Voller lebendiger Erinnerungen, voller Begeisterung und voller Leidenschaft machte sich Gennaro an die Erschliessung seiner Fotografien. Seine regelmässigen Besuche in Basel waren eine Inspiration für das gesamte EKWS-Team. Seinem scharfen Beobachtungssinn entging kein Detail und immer wieder reflektierten wir über grundlegende Fragen des wissenschaftlichen Prozesses der Erschliessung: Werden nur objektive Fakten oder auch persönliche Erinnerungen erfasst? Wieviel Interpretation darf einfliessen? Wer entscheidet welche Informationen erfasst werden und welche nicht? Es fehlte auch nicht an Frustrationen, wenn z.B. das technische Korsett des Datenbanksystems ihm nicht erlaubte, eine Information so zu erfassen, wie er es sich wünschte.
Sein ausgeprägtes kritisches Denken und sein Erzähltalent bereicherten viele Sitzungen am Kaffeetisch. Seine Anekdoten waren dichte Beschreibungen dessen, was geschehen ist – immer gewürzt mit einer Prise feinsten Humors. Einmal erzählte er, wie ihm ein unbekanntes, wiegendes Geräusch den Schlaf in Tall Tishrin raubte. Das Geräusch an und für sich sei nicht störend gewesen. Aber die Tatsache, dass er die Quelle nicht kannte, irritierte ihn so sehr, dass er nicht mehr einschlafen konnte. Etwas überrascht entdeckte er, dass es eine Frau war, die durch eine rhythmische Bewegung eines Ziegenbalges Joghurt herstellte.

Gennaro arbeitete über ein Jahr an der Erschliessung der Syrien-Sammlungen. Er verheimlichte nicht, dass es ihn viel Energie kostete über abgebildete Menschen und Freunde, die nicht mehr lebten und über ihre Orte, die im Zuge des Krieges zerstört wurden, zu reflektieren und zu schreiben. Als seine Fotografien 2018 öffentlich zugänglich wurden, bekam er viele positive Rückmeldungen aus Syrien. Insbesondere jüngere Menschen waren ihm dankbar, denn durch seine Fotografien konnten die Gesichter und die Geschichten ihrer Grosseltern und Verwandten, die sie nie kennengelernt hatten, zum ersten Mal angeschaut und entdeckt werden.
Auch wenn die Syrien-Sammlungen der Hauptgrund war, wieso Gennaro den Kontakt zum EKWS-Archiv suchte, entschied er sich 2018 etwas zu unternehmen, das ein paar Jahre zuvor für ihn kaum vorstellbar gewesen wäre. Gennaro schenkte dem EKWS-Archiv auch seine private Familiensammlung mit Abzügen, Negativen und Fotoalben aus den 1920er bis 1940er Jahren sowie historische Fotografien aus dem 19. Jahrhundert. Während der Erschliessung der Syriensammlungen hatte er aber betont, dass er so eine «Heidenarbeit» nie und nimmer für seine Familiensammlung wiederholen würde.

Im Frühjahrsemester 2018 nahm Gennaro an einem Seminar der Universität Basel mit dem programmatischen Titel «Der Fall Ghirardelli: Zugänge zur Erschliessung und Erforschung einer fotografischen Sammlung» teil. Den Austausch mit den Studierenden fand Gennaro sehr bereichernd; ihre Interpretationen, Beobachtungen und Analysen seiner Familienfotografien gleichzeitig überraschend und erkenntnisreich. Der mehrperspektivische Zugang zu seiner Sammlung, die er zwar gut kannte, aber aufgrund seiner emotionalen Nähe mit anderen Augen angeschaut hatte, ermunterte Gennaro nun doch, seine Privatsammlung selber zu erschliessen – was er dann auch tat, mit viel Hingabe bis zur Diagnose seiner Krankheit.
Gennaros Detektivarbeit war verblüffend und eröffnete immer wieder neue Wege für eine tiefere Erschliessung der Fotografien. Einmal offenbarte er uns ein amüsantes Resultat seiner Recherchen zu einem Foto, auf dem vor seinem Vater Carlo Ghirardelli jun. angeblich Winston Churchill stand: «Wir sind alle einem Fake aufgesessen!». Der Mann sei ein Spassvogel, der seine verblüffende Ähnlichkeit mit Winston Churchill genoss. «Er hatte ja eine Krawatte, während Churchill ausnahmslos die Fliege – handgebunden und nicht mit Gummizug – trug.»

Gennaro liess sich von Problemen mit seinen Augen nicht von der Erschliessungsarbeit seines visuellen Materials abbringen und verlor trotz der erschwerenden Umstände niemals seinen Humor. So schrieb er: «Ich bin nun stark sehbehindert, kann nur beschränkt arbeiten […] Gegen Ende Mai wird das Silikon entfernt, dann werde ich – hoffentlich – buchstäblich weitersehen, wie sich die Dinge entwickeln. Ich gehe davon aus, dass wir danach einen neuen Termin ‹ins Auge fassen› können. […] Dazu ein Trost: Auf dem rechten Auge bin ich seit der OP vor vier Jahren stark geblendet und fast farbenblind geblieben, während das linke Auge jetzt zwar noch stark verschwommen sieht, die Farben scheinen sich aber erhalten zu haben. Ich habe also das Privileg, ein Auge für Farb- und eines für Schwarz-Weissfotografie zu besitzen. Toll – oder !? Der grösste Witz: Ich habe mir knapp einen Monat vor der Netzhautablösung eine neue, ziemlich teure Kamera gekauft.»
Bei Führungen, Workshops und Events im EKWS-Archiv war Gennaro stets mit seinem grossen Wissen und seiner Begeisterung dabei. Seine Freundlichkeit und Positivität im Umgang mit Menschen waren entwaffnend. Auch in schwierigen Momenten fand er immer die richtigen Worte: «Die Banalitäten des Alltags sind kompliziert und anstrengend. Ich versuche, halbwegs guter Laune zu bleiben.»
In dankbarer Erinnerung.
