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Cuteness als subkulturelle Ästhetik

7. April 2025

Annekathrin Kohout

Die Ästhetik der Niedlichkeit hat in den letzten Jahren zunehmend an Aufmerksamkeit gewonnen – sowohl in der Kunst- als auch in der Kulturtheorie. Doch woher kommt dieses plötzliche Interesse in Theorie und Kunst an der Cuteness? Ist es ein Rückzug ins Kuschelige, Heimelige, Kleine aus der immer grösser, komplexer und anfälliger werdenden globalisierten Welt? Ein Eskapismus vor den Folgen von Klimawandel, Pandemie und Krieg? Ist die Beschäftigung mit Cuteness gar als ein «inneres» Exil zu verstehen, angesichts einer durch die multiplen Krisen von Zukunftsangst und dem Gefühl der Machtlosigkeit geprägten, «düsteren» Gegenwart? Lassen sich einige dieser Fragen mit «Ja» beantworten, so könnte man Cuteness als Widerstand, ja sogar als Gegenkultur beschreiben. Doch was ist die (künstlerische) Haltung dahinter?

Immer wieder haben in Kunst und Mode Umwertungen bestehender kultureller Hierarchien zu neuen subkulturellen Impulsen geführt und abweichende Perspektiven auf etablierte Anschauungen ermöglicht. Künstlerische Aneignungen vermeintlich naiver, unseriöser, eskapistischer Niedlichkeit – etwa durch Pop Art oder Ready-Mades – haben das Kunstverständnis weitreichend verändert. Auch Niedlichkeit kann auf diese Weise umgewertet werden: Aus einer Erfahrung der Machtlosigkeit kann eine des Empowerments werden, und das Anliegen, durch eine «Happy Art» auch eine «Happy World» zu erzeugen, kann zu einem ernsthaften Vorhaben werden. Doch es gibt Grenzen, wie viel Cuteness ein Aktivismus verträgt, der solche Ziele verfolgt. Ein Aktivismus, der durchsetzungsfähig sein möchte, ohne dabei gleich etwas zu provozieren, das in der Netzkultur als Toxic Positivity bekannt ist – eine Form des schädlichen Optimismus.

Niedlichkeit und Schwäche

In den Texten zur Cuteness dominiert die Vorstellung, dass besonders niedlich sei, was dysfunktional wirkt und deshalb bemitleidenswert ist. Man denke nur an das tapsige Bambi und wie es bei seinen ersten Gehversuchen humpelt und stolpert und hinfällt – super süss. Doch häufig geht es nicht nur um Mitleid, sondern um Mitgefühl. Während Mitleid eher eine passive Haltung beschreibt, die manchmal auch egoistisch sein kann (etwa wenn das Leiden anderer mit der eigenen Erleichterung einhergeht, besser dran zu sein), ist Mitgefühl ein Akt der Zuwendung. Es ermöglicht Empathie, ohne dass Identifikation notwendig ist. Insofern gibt es eine Art «niedlicher Blick», der das Betrachtete liebkost. Emmanuel Lévinas verwendete das poetische Bild der Liebkosung als Paradigma für die richtige Distanz zwischen dem Selbst und dem Anderen, die die Alterität respektiert, ohne sie aufzuheben. Wenn zum Beispiel Diversität angestrebt wird, kann der niedliche Blick ein Weg sein, einander sensibel und rücksichtsvoll zu begegnen.

Doch einige Menschen neigen dazu, Verletzlichkeit und auch das Niedliche als Schwäche zu deuten. In der Kulturgeschichte wurde dies jedenfalls regelmässig getan. Seit dem Aufkommen der Ästhetik als philosophische Disziplin wird Niedlichkeit – wenn sie überhaupt erwähnt wird – als eine kleine, minderwertige Ästhetik beschrieben, die vor allem Frauen zugeschrieben wird. Das sogenannte Kindchenschema provoziert einen fürsorglichen Blick, der in den Bereich der Mutterschaft fällt. Demgegenüber wird das Schöne und Erhabene in seiner Grösse und Fähigkeit zur Transzendenz den Männern zugerechnet. Es überrascht daher nicht, dass sich diese Vorstellungen bis ins 20. Jahrhundert (und teils bis heute) fortsetzen, wo auf der einen Seite häuslicher, niedlicher, runder, weicher Kitsch steht und auf der anderen Seite die starke, spitze, harte Avantgarde. Natürlich galten Niedlichkeit und Kitsch keinesfalls als Kunst, sondern als Freude derer, die wenig ästhetische Bildung genossen hatten. Clement Greenberg formulierte dies prägnant: «Kitsch ist nicht Kunst; Kitsch ist geradezu der Gegenbegriff zu Kunst.» Und wie die Nobelpreisträgerin Toni Morrison in ihrem 1970 erschienenen Roman Sehr blaue Augen eindrucksvoll beschreibt, sind die Prototypen des Niedlichen weiss und blauäugig – Shirley Temples eben. Niedlichkeit ist also eine Ästhetik, die eng mit Geschlecht, Klasse und Ethnie verbunden ist. Aus heutiger Perspektive eignet sie sich deshalb hervorragend dazu, bislang gültige Paradigmen sowie die damit verbundenen Motive und Narrative zu hinterfragen. Nicht nur etablierte Kunstvorstellungen werden damit herausgefordert – sondern auch das kulturelle Selbstverständnis.

Christophe de Rohan Chabot, Untitled (Pika gray 2), 2023, For. Photo Credits ©Gina Folly

Cute als Haltung

Mittlerweile lässt sich die Präsenz des Niedlichen überall beobachten. In der Kulturwissenschaft – Sianne Ngais Essay über Cuteness von 2005 lässt sich sogar als jüngeren Theorie-Klassiker bezeichnen –, in der Kunst und sogar in der Literatur! Ein Gedicht von Clemens Setz auf Twitter beginnt so: «Erdhörnchen als Vorbild / für Astronauten / Weil sie so zierlich / Nüsse kauten». Wie cute ist das bitte? Überhaupt ist das Wort «cute» auch im deutschsprachigen Raum ein beliebter Anglizismus geworden. Seine Verwendung zeigt, dass Niedlichkeit nicht nur eine visuelle Erscheinungsform ist, die wir mit Konsumgestaltung assoziieren. Vielmehr drückt sie eine Haltung aus: Cute ist – wie einst «cool» – eine Attitüde. Ein cuter Look, ein cuter Gedanke oder eine cute Person – all das kann man etwa auf dem Instagram-Profil der Filmemacherin und Autorin Jovana Reisinger erleben. Sie nennt ihre Freunde und Follower liebevoll «Mäuse» oder «Bebis», bevorzugt Verniedlichungsformen («Urli» statt Urlaub), erklärt die Berlinale mal eben zum «Zuckerschnutenfestival» und findet ziemlich viel cute – vor allem Dinge, die sonst eher belächelt oder von gebildeten Personen gemieden werden (wie glitzernde Fingernägel oder Fastfood). Cuteness, das ist auch eine Anerkennung von Andersartigkeit, Skurrilität oder Extravaganz.

Das zeigt sich auch in dem Vorschlag von Autor:in Hengameh Yaghoobifarah aus dem Jahr 2021, Anreden nicht mehr mit «Sehr geehrte Damen und Herren», sondern mit «Liebe Businessmäuse» zu beginnen; «für den lockereren Singular reicht ‹Hey Maus›, statt jemand oder jemensch jemaus, statt niemand oder niemensch niemaus.» Warum? Um dem Phänomen der Hate-Clout etwas entgegenzusetzen. Jemanden oder etwas cute zu nennen, hat etwas Versöhnliches und Nachsichtiges. Schwächen werden mit Humor genommen, Verletzlichkeit wird geschätzt. Cute ist nicht ironisch gemeint, auch wenn es dennoch mit einem Augenzwinkern versehen ist, das andeutet, dass es um mehr geht als um naive Beschönigung oder Toxic Positivity. Im Gegensatz zu cool kann cute ausdrücken, dass man emotional involviert ist – und nicht, dass alles an einem abprallt. Man steht nicht über den Dingen, sondern in ihnen. Cuteness ermöglicht also etwas, das in der Gegenwartsgesellschaft mehr denn je ersehnt wird: Nahbarkeit, Intimität und daraus resultierende Gemeinschaftlichkeit. Die durch Cuteness hervorgebrachte Beziehung ist nicht unbedingt patriarchal. Sie kann nicht nur zwischen Partner:innen, Familienmitgliedern oder engen Freund:innen entstehen. Wenn cute zur Haltung wird, kann sich dieser fürsorgliche Blick sogar auf eine Ameise richten. Wir müssen uns miteinander verbunden fühlen, um Verantwortlichkeit füreinander zu empfinden. Diesen Appell hat Donna Haraway in ihrem Buch Staying with the Trouble von 2016 formuliert. Dazu passt die Etablierung des Niedlichen, das ein (emotionales) Eingebundensein ermöglicht.

Neben anderen visuellen Erscheinungsformen der Gegenwart – man denke nur an ASMR- oder Oddly-Satisfying-Videos – gehört auch Cuteness zu einer Affektästhetik, die unmittelbare Reaktionen auslöst (nicht nur kognitive, sondern auch körperliche, wie das Bedürfnis zu streicheln oder zu knuddeln). Niedliches beruhigt, entspannt, kann Freude oder Trost spenden. So wird das plötzliche Interesse an der Cuteness zu Recht als ein Rückzug ins Kuschelige, Heimelige, Kleine aus einer immer grösser, komplexer und anfälliger werdenden globalisierten Welt interpretiert. Besonders im Netz werden etwa Inhalte von niedlichen Tieren oft als Eskapismus vor den sonst dominierenden Nachrichten über die Folgen von Klimawandel, Krieg und Pandemie angesehen.

Manchmal ist das ein unbewusster Mechanismus, eine kleine Wohltat zwischendurch, manchmal aber auch eine bewusste Entscheidung, die Welt mit einem «niedlichen Blick» zu betrachten – eine liebevolle und verständnisvolle Perspektive. Diese Betrachtung ermöglicht sogar Freiheit, da man sich nicht auf die «grosse Gereiztheit» (Bernhard Pörksen) einlässt und sich damit von ihr dominieren lässt, die längst nicht mehr nur in Form von Hatespeeches oder Shitstorms den digitalen Raum prägt, sondern auch im Alltag zu einer «kulturellen Erregung» geführt hat. Natürlich darf diese bewusste Einstellung nicht dazu führen, Negativität oder Krisen komplett auszublenden. Vielleicht hat sich deshalb auch der Anglizismus «cute» (statt «süß» oder «niedlich») im deutschen Sprachraum durchgesetzt, um anzuzeigen, dass es sich um eine wohlüberlegte, nicht naive oder weltfremde Verwendung handelt. Das kulturelle Selbstverständnis des 20. Jahrhunderts war geprägt von Avantgardismus und Coolness. Es war hochkulturell, elitär, distinktiv, unnahbar. Im persönlichen Verhalten spiegelte sich dies in der Kontrolle von Emotionen und dem Verbergen von Verletzlichkeit wider. Coolness stand für emotionale Kälte und demonstrierte Stärke, Gelassenheit sowie eine oppositionelle Haltung gegenüber vorherrschenden Normen. Rebellion, Dissonanz und Selbstzerstörung waren gängige Motive. Andreas Reckwitz beschreibt dies als das Selbstverständnis der «Gesellschaft der Singularitäten». Doch diese Epoche neigt sich dem Ende zu.

Sich selbst als fürsorglich erleben

Ein neues kulturelles Selbstverständnis kündigt sich an, das mit Verblüffung und manchmal mit Widerwillen auf das bisher vorherrschende Selbstbild blickt. Ausgelöst durch den sich verschlechternden Zustand demokratischer Institutionen, die Reaktionen auf den Klimawandel, auf Care- und Reproduktionskrisen sowie das Erstarken nationalistischer Kräfte, ist eine Sehnsucht nach Empathie, Kollektivität und Solidarität entstanden. Wie konnte man sich so lange so individualistisch, egozentrisch und selbstherrlich verhalten? Niedlichkeit, eine cute Attitüde, ermöglicht es, sich selbst als fürsorglich und verantwortlich zu erleben.

Dass Niedlichkeit oft im konsum- und popkulturellen Gewand daherkommt, ist – vielleicht überraschend – keine Liebeserklärung an den Kapitalismus. Dass dieses System vielen Leid bringt, wird als Schwäche akzeptiert, wenn auch nicht negiert. Stattdessen kann sich in der cuten Attitüde auch eine gewisse Traurigkeit über das Scheitern und die Nichterfüllung von Verheissungen ausdrücken. Trotzdem ist die Macht der Niedlichkeit begrenzt, besonders in der Netzkultur. Um «cute» oder die Ästhetik der Niedlichkeit richtig zu verstehen, braucht es Kontext. Ohne diesen lassen sich Begriffe und Bildsprachen schnell in ihr Gegenteil verkehren. So zeigt auch Hengameh Yaghoobifarahs Vorschlag, «Maus» statt «Mensch» zu sagen, dass es darauf ankommt, wer zu wem «Maus» sagt. Nicht ohne Grund musste Yaghoobifarah die eigene Idee später revidieren. Zu viele haben den «Mausi»-Sprech genutzt, um traditionelle Geschlechterrollen zu festigen, anstatt sie spielerisch in Frage zu stellen. Heute spricht Yaghoobifarah lieber von «Ratten» als von «Mäusen» – aber auch diese können natürlich niedlich sein.

Annekathrin Kohout ist Gastprofessorin für Modetheorie an der UdK Berlin, freie Autorin und Mitherausgeberin der Buchreihe Digitale Bildkulturen sowie der Zeitschrift POP. Kultur und Kritik. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit den Ästhetiken und Theorien von Pop- und Populärkultur, den Sozialen Medien und Gegenwartskunst. Ihr erstes Sachbuch Netzfeminismus erschien 2019, es folgten Nerds. Eine Popkulturgeschichte 2022 und K-Pop. Lokale Volkskultur, globale Alternativkultur? 2023.

Cuteness als subkulturelle Ästhetik erschien am 12.10.2024 im For Magazin #8 Easy Cool Cute Swipe und steht im Dialog mit der Ausstellung Melting Point im For, Basel.