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25'000 Fotos von 12’000 Votivgaben: eine einzigartige Sammlung im EKWS-Archiv

18. Februar 2025

Franziska Schürch

Die meisten Objekte, die sich im multimedialen Archiv der EKWS befinden, wurden als Teile von Sammlungen aufgenommen. Die Sammlung Baumann, eine fotografische Bestandsaufnahme von Votivgaben und -bildern der Schweiz, ist eine davon. Entstanden zwischen 1938 und 1955 ist das Zusammentragen dieser Sammlung eines der umfangreichsten volkskundlichen Forschungsprojekte der Schweiz. Die Sammlung ist einzigartig und für die Forschung überaus wertvoll: Sie versammelt alle damals in der Schweiz vorhandenen Votivbilder und -gaben, von denen viele heute nicht mehr erhalten sind.

Was sind Votivgaben und wer ist Ernst Baumann?

Votivgaben oder Votivbilder sind Gaben von Gläubigen: Manchmal sind sie mit der Bitte um göttlichen Beistand verbunden. Häufiger sind sie aber Zeugnis der Dankbarkeit, etwa nach einem Unfall, einer überstandenen schweren Krankheit oder einem erschütternden Naturereignis. Dabei sind Votivgaben von Votivbildern zu unterscheiden: Während Erstere Gegenstände aus Holz, Wachs oder Silber darstellen, handelt es sich bei Letzteren um Malereien. In der Regel enthalten diese eine bildliche Darstellung der überstandenen Gefahr und der angerufenen Heiligen, sehr häufig ist dies die Gottesmutter Maria. Das Bild wird oftmals durch das Datum ergänzt und mit dem Spruch «Ex Voto», was so viel heisst wie «wegen eines Gelübdes» versehen. Auf manchen Bildern findet sich auch ein kurzer, erklärender Text, der auf das Ereignis, welches zu der Votivgabe führte, Bezug nimmt. Votivbilder waren bis Ende des 19. Jahrhunderts in allen katholischen Regionen verbreitet. Danach kam es zu einem merklichen Rückgang der Votivpraxis: ein Grund für die damaligen Exponent:innen der Volkskunde, sich mit dem Thema zu beschäftigen.

Der Anstoss zu einer Sammlung von Schweizer Votivgaben kam vom Basler Altertumswissenschaftler Karl Meuli, seit 1935 Obmann der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde (SGV, heute EKWS). Ihm gelang es, den Kunsthistoriker und Therwiler Sekundarlehrer Ernst Baumann (1905–1955) als Leiter des grossangelegten Sammlungsvorhabens zu gewinnen. Im Auftrag der SGV und mit über 80 freiwilligen Mitarbeitenden führte Baumann die von der Stiftung Pro Helvetia mitfinanzierte Bestandsaufnahme aller Votivgaben und Votivbilder der Schweiz durch. So entstand eine fotografische Sammlung mit über 12'000 Objekten aus rund 818 Kirchen und Kapellen der katholischen Schweiz. Jedes Ex Voto wurde fotografiert und mittels eines Fragebogens beschrieben. Die Auswertung des gesammelten Materials fand nur in Ansätzen statt: Ernst Baumann plante eine Publikation über die «Religiöse Volkskunde der Schweiz» zu verfassen, er verstarb jedoch 1955, bevor dieses Werk zustande kam. Der St. Galler Sprachwissenschaftler Iso Baumer arbeitete in den 1960er/70er Jahren verschiedentlich an der Sammlung Baumann und publizierte einige regionale Studien, etwa im Schweizerische Archiv für Volkskunde über «Die Votivtafeln und Votivgaben von Disentis». Weitere Publikations- und Forschungsprojekte scheiterten, unter anderem auch am Paradigmenwechsel der damaligen volkskundlichen Forschung ab den 1960er Jahren.

Teile der Votivsammlung Ernst Baumann
Die Sammlung Ernst Baumann ©EKWS

Neue Fragen an die Sammlung Baumann

Es sei erstaunlich, dass diese ausserordentliche Sammlung bisher wenig Aufmerksamkeit von Seiten der wissens- und wissenschaftshistorischen Forschung erhalten hat, konstatierte der Kulturwissenschaftler Konrad Kuhn 2019 in seinem Aufsatz «Dynamik in der Archivschachtel: Potentiale einer Wissensgeschichte volkskundlicher Sammlungen.» Das liege vermutlich auch daran, dass die Sammlung mit ihrer unüberblickbaren Materialfülle eher bremsend auf jüngere Forschende mit einem neuen Blick auf kulturwissenschaftliche Fragestellungen wirke. Mit einzelnen Objekten aus der Sammlung wurde jedoch trotzdem immer wieder gearbeitet, stellt Kuhn fest.

Aktuell beschäftigt sich Rahel Schär mit dem Bestand. Die Theologin und Historikerin an der Abteilung für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte des Historischen Instituts der Universität Bern, arbeitet im Rahmen ihres Forschungsprojekts «Votivbilder: Zeugnisse religiöser Prävention und Bewältigung existentiell bedrohlicher Krankheiten, Naturereignisse, Gewalttaten und Unfälle » mit der Sammlung Baumann. Schär deutet Ex-Voto-Malereien als Ausdruck einer individuellen und kollektiven religiösen Präventions- und Bewältigungsstrategie im Zusammenhang mit einer lebensbedrohlichen Situation wie beispielsweise einer Naturkatastrophe. Schär interessiert sich unter anderem für die Beziehung zwischen Mensch und Natur und zeigt anhand der religiösen Praxis des Votivbild-Stiftens auf, wie sich diese für Menschen aus je unterschiedlichen, gesellschaftlichen Gruppen gestaltete: «Votivbilder sind sozusagen Selbstzeugnisse nicht nur von Adligen und Geistlichen, sondern auch von bäuerlichen Familien, Taglöhner:innen und Landhandwerker:innen.» (aus Schär «Donnerwetter, Viehseuchen und Schlammlawinen: Ex voto-Malereien als Zeugnisse ländlicher Lebensrealitäten», Vortrag im Rahmen der Tagung «Bilder der ländlichen Gesellschaft» der SGLG und der EKWS im November 2024).

In ihrer Übung zum Thema «Einführung in die Bildanalyse: Votivbilder als historische Quellen» war Rahel Schär mit einer Gruppe Student:innen in Basel, um die Votivbilder der Basler Sammlung zu untersuchen. ©Carolina Cardoso, 2024

Die Votivsammlung Ernst Baumann, Fotografien von rund 12‘000 Schweizer Votivgaben mit jeweils zugehörigen Fragebogen, schlummert in zahllosen Archivschachteln im EKWS-Archiv in Basel. Der Bestand ist sehr gut strukturiert: Jeder einzelne Fragebogen wurde nummeriert und nach Kantonen und Orten geordnet archiviert. Und dennoch ist der Bestand für die Öffentlichkeit wie auch für die Forschung nur schwer zugänglich. Glücklicherweise führte die EKWS deshalb 2019 eine Probeerfassung der ersten 51 Votivgaben durch. Eine vollständige Erfassung der Daten sowie eine Digitalisierung des gesamten Bestandes steht noch aus. Dieser Schritt ist für eine zukünftige Nutzung der Sammlung wohl unabdingbar.

Kuhn zeigt in seinem Aufsatz Möglichkeiten auf, anhand derartiger volkskundlicher Sammlungen die komplexen Praktiken der kulturwissenschaftlichen Wissensproduktion zu untersuchen. Er plädiert dafür, eine «Kontext- und Beziehungsgeschichte von Sammlungen zu schreiben.» Durch diese neuen Fragen und wissenschaftlichen Perspektiven kommt der Wert solcher Sammlungen überhaupt erst ans Licht.

Eine Führung durchs EKWS-Archiv mit der Leiterin des EKWS-Archivs Nicole Peduzzi während der Übung von Rahel Schär ©Carolina Cardoso, 2024